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Zitiervorschlag: Bernard, LRZ 2023, Rn. 104, [●], www.lrz.legal/2023Rn104.
Permanente Kurz-URL: LRZ.legal/2023Rn104
Einer Entscheidung muss im Grundsatz die Anerkennung und Vollstreckung versagt werden, wenn bereits ein Schiedsspruch über denselben Anspruch zwischen denselben Parteien erlassen wurde. Dass dies auch unter der EuGVVO gilt, wurde jüngst vom EuGH bestätigt. Überraschend verlangt das Gericht jedoch, dass das Schiedsgericht die „Grundregeln“ der EuGVVO beachtet hat. Diese Voraussetzung ist unhaltbar.
Einer Entscheidung muss im Grundsatz die Anerkennung und Vollstreckung versagt werden, wenn bereits eine Entscheidung über denselben Anspruch zwischen denselben Parteien erlassen wurde. Nichts anderes gilt im Regelfall, wenn sich ein Schiedsspruch und eine spätere gerichtliche Entscheidung gegenüberstehen.1
Jüngst musste sich damit auch der EuGH beschäftigen: 2002 verursachte die Havarie eines Öltankers massive Umweltschäden an der spanischen Küste. Der spanische Staat machte daher einen Direktanspruch vor einem spanischen Gericht gegen den Schiffsversicherer geltend. Der Versicherer leitete ein Schiedsverfahren auf Grundlage der versicherungsvertraglichen Schiedsklausel ein und begehrte die Feststellung der Nichthaftung. Das in London sitzende Schiedsgericht erachtete sich für zuständig und stellte 2013 fest, dass der Versicherer nicht hafte. Nachdem der High Court eine dem Schiedsspruch entsprechende Entscheidung erlassen hatte,2 wurde der Versicherer im spanischen Verfahren 2019 rechtskräftig zur Zahlung verurteilt.3 Der spanische Staat beantragte vor dem High Court die Vollstreckung der spanischen Entscheidung unter der EuGVVO. Der Versicherer trat der Vollstreckung mit Blick auf die dem früheren Schiedsspruch folgende Entscheidung entgegen. 2020 fragte der High Court den EuGH, ob die Vollstreckung aufgrund einer solchen Folgeentscheidung zu versagen sei.4
Der EuGH hat die Frage im Grundsatz und im Einklang mit dem Generalanwalt bejaht.5 Überraschend stellte der EuGH jedoch fest, dass eine Folgeentscheidung bzw. ein Schiedsspruch (doch) keinen Anerkennungsversagungsgrund darstelle, falls im Schiedsverfahren die „Grundregeln“ der EuGVVO missachtet wurden.6 Im Folgenden wird gezeigt, dass diese Ausnahme – die dem Generalanwalt richtigerweise nicht einmal in den Sinn kam – sowohl dogmatisch als auch im Ergebnis nicht haltbar ist.
Dass der EuGH eine einem früheren Schiedsspruch folgende Entscheidung7 als Anerkennungsversagungsgrund gem. Art. 45 Abs. 1 lit. c EuGVVO ansieht, ist nicht überraschend. Es ist im Ergebnis Konsens, dass einer mitgliedstaatlichen Entscheidung unter der EuGVVO aufgrund eines früheren Schiedsspruchs die Anerkennung und Vollstreckung auf die eine oder andere Weise versagt werden muss.8 Folgeentscheidungen werden zwar teilweise – entgegen der Ansicht des EuGH9 – nicht als Anerkennungsversagungsgrund angesehen, weil sie keine Entscheidungen i. S. v. Art. 2 lit. a EuGVVO darstellen würden10 bzw. keine Unvereinbarkeit i. S. v. Art. 45 Abs. 1 lit. c EuGVVO vorliege11. Dies wird damit begründet, dass mit der Folgeentscheidung zwar über die gegen den Schiedsspruch vorgebrachten Einwände12, nicht aber (erneut) über den materiellen Anspruch entschieden wird.13 Auf das Ergebnis wirkt sich das jedoch nicht aus, weil diejenigen, die diese Auffassung vertreten, stets den Schiedsspruch selbst als Anerkennungsversagungsgrund ansehen.14
Schiedssprüche sind zwar keine Entscheidungen i. S. v. Art. 2 lit. a EuGVVO, sodass Art. 45 Abs. 1 lit. d15 EuGVVO nicht direkt anwendbar ist.16 Die Wertungen der Vorschrift sprechen aber für ihre analoge Anwendung: Frühere ausländische Entscheidungen haben Vorrang, wenn sie früher erlassen wurden. Dies muss auch für Schiedssprüche gelten. Anderenfalls hätten Schiedssprüche wenig bis keinen Wert innerhalb der EU, weil sie stets durch eine mitgliedstaatliche Entscheidung getrumpft werden könnten.17 Zwar wird eine analoge Anwendung von Art. 45 Abs. 1 lit. d EuGVVO teilweise (mit überzeugenden Argumenten) abgelehnt und stattdessen auf Art. 45 Abs. 1 lit. a EuGVVO abgestellt.18 Dies ändert aber nichts am Ergebnis.19
Anstatt es – mit dem Generalanwalt und der Literatur – bei diesem Grundsatz zu belassen, verlangt der EuGH jedoch, dass das Schiedsgericht die „Grundregeln“ der EuGVVO beachtet haben muss.20 Im Falle ihrer Missachtung könne die dem Schiedsspruch folgende Entscheidung „der Entscheidung aus einem anderen Mitgliedstaat nicht … entgegenstehen.“21 Konkret moniert der EuGH die Missachtung der relativen Wirkung der Schiedsklausel und der Rechtshängigkeit des früher eingeleiteten spanischen Verfahrens.22 Nichts anderes kann danach für den Schiedsspruch selbst23 gelten.
Bevor einer mitgliedstaatlichen Entscheidung die Anerkennung und Vollstreckung aufgrund eines Schiedsspruchs oder einer Folgeentscheidung versagt werden kann, soll also die Vereinbarkeit des Schiedsspruchs mit den „Grundregeln“ der EuGVVO geprüft werden. Dies ist sowohl dogmatisch als auch im Ergebnis unhaltbar.
Erachtet man – wie der EuGH – eine einem Schiedsspruch folgende Entscheidung als Entscheidung i. S. v. Art. 2 lit. a EuGVVO, so wird diese unbedingt privilegiert (Art. 45 Abs. 1 lit. c EuGVVO). Sie nicht als Anerkennungsversagungsgrund zu akzeptieren, ist folglich systemwidrig.24 Ihr muss in diesem Fall zudem nachträglich die Wirkung genommen werden, um eine Kollision mit der Entscheidung zu verhindern, der die Anerkennung und Vollstreckung (zu Unrecht) nicht versagt werden darf.25 Dass der EuGH das fehlende Vertrauen in die Folgeentscheidung anführt,26 ist absurd. Denn es geht hier um eine Anerkennungsversagung aufgrund einer inländischen Entscheidung, der im Inland selbstverständlich Vertrauen entgegengebracht wird.27
Dasselbe gilt für den früheren Schiedsspruch. Zwar steht dieser nicht inländischen, sondern – analog Art. 45 Abs. 1 lit. d bzw. lit. a EuGVVO28 – drittstaatlichen Entscheidungen gleich. Er wurde jedoch im Inland anerkannt, weshalb es wiederum systemwidrig ist, ihn nicht als Anerkennungsversagungsgrund im Inland zu akzeptieren. Wiederum geht der Verweis des EuGH, das gegenseitige Vertrauen erstrecke sich nicht auf Schiedssprüche, fehl. Ferner muss auch dem Schiedsspruch in diesem Fall zudem nachträglich die Wirkung genommen werden, um eine Entscheidungskollision zu verhindern.29
Das Ganze wäre immerhin erträglich, falls Schiedssprüche, die gegen die „Grundregeln“ der EuGVVO verstoßen, nicht anzuerkennen wären. Der High Court hätte in diesem Fall schlicht einen Fehler gemacht und die Folgeentscheidung zu Unrecht erlassen. Dies ist aber nicht der Fall. Die „Grundregeln“ der EuGVVO spielen im Rahmen der Anerkennung von Schiedssprüchen vielmehr keine Rolle.
Die Anerkennung von Schiedssprüchen richtet sich nicht nach der EuGVVO,30 sondern nach nationalem Recht,31 was auch der High Court feststellte.32 Auf den vorliegenden Fall gemünzt: Dass eine versicherungsvertragliche Gerichtsstandsvereinbarung unter der EuGVVO keine Wirkung zu Lasten eines direkt klagenden Geschädigten entfaltet,33 ist hier irrelevant. Jedenfalls nach dem hier maßgeblichen englischen Recht ist dies bei Schiedsvereinbarungen nicht der Fall.34 Das mag man für falsch halten,35 es ist aber zu akzeptieren.36 Dasselbe gilt für die EuGVVO-Rechtshängigkeitssperre,37 deren Missachtung selbst unter der EuGVVO keinen Anerkennungsversagungsgrund darstellt38. Schiedsverfahrensregeln kennen nicht einmal eine Rechtshängigkeitssperre,39 weil Schiedssprüche ohnehin einer Kontrolle40 unterliegen.41
Ferner ist es zwar möglich, dass europäische Bestimmungen im Rahmen einer ordre public-Kontrolle42 beachtet werden müssen. Es muss aber stets eine „grundlegende Bestimmung“ betroffen sein, „die für die Erfüllung der Aufgaben der Gemeinschaft und insbesondere für das Funktionieren des Binnenmarktes unerläßlich ist.“43 Dies ist bei den „Grundregeln“ der EuGVVO nicht der Fall. Die EuGVVO ist, wie gesagt, auf Schiedsverfahren gerade nicht inhaltlich anwendbar, sodass ihre Wertungen schwerlich relevant sein können. Zudem wird im Rahmen einer ordre public-Kontrolle lediglich die Tragbarkeit des Ergebnisses überprüft. Weder die Wirksamkeit einer versicherungsvertraglichen Schiedsklausel zu Lasten eines direkt klagenden Geschädigten noch die Missachtung der Rechtshängigkeit durch ein Schiedsgericht stellen aber ein untragbares Ergebnis dar.44
Der EuGH führt letztlich aus, der Vorrang des Schiedsspruchs bzw. der Folgeentscheidung „wäre … geeignet, dem Geschädigten den tatsächlichen Ersatz des ihm entstandenen Schadens vorzuenthalten.“45 Dies ist abermals absurd. Ob der Schaden zu ersetzen ist, ist eine im Rahmen der Anerkennung nicht nachzuprüfende Entscheidung in der Sache. Ebenso gut hätte die Haftung im Schiedsverfahren bejaht und im spanischen Verfahren verneint werden können.46
Zusammenfassend ist früheren Schiedssprüchen, die gegen die „Grundregeln“ der EuGVVO verstoßen, nicht die Anerkennung zu versagen. Die EuGVVO ist inhaltlich unanwendbar und ihre Wertungen sind (auch im Rahmen einer ordre public-Kontrolle) nicht beachtlich. Dass der EuGH solche Schiedssprüche (bzw. Folgeentscheidungen) nicht als Anerkennungsversagungsgrund akzeptiert, ist falsch und führt dazu, dass ordnungsgemäß anerkannten früheren Schiedssprüchen (bzw. Folgeentscheidungen) systemwidrig ihre Wirkung wieder genommen werden muss. Bei ausländischen Schiedssprüchen kommt ein Verstoß gegen die der EuGVVO vorgehenden47 New York Convention hinzu.48 Auch dies wird den EuGH – der bereits an anderer Stelle den Vorrang völkerrechtlicher Übereinkommen missachtet hat49 – wohl nicht interessieren.50 Ironischerweise verhinderte gerade die Furcht der Schiedsszene vor der „Europäisierung“ von Schiedsverfahren, dass Schiedsgerichten unter der EuGVVO Vorrang auf Rechtshängigkeitsebene eingeräumt wird.51
Solange die Entscheidung gilt, steht man somit vor einem Dilemma: Schiedssprüche sind auch dann anzuerkennen, wenn sie gegen die „Grundregeln“ der EuGVVO verstoßen, die Schiedsgerichte nicht beachten müssen. Die Wirkung solcher Schiedssprüche muss aber wieder aufgehoben werden, falls anschließend eine mitgliedstaatliche Entscheidung geltend gemacht wird, deren Anerkennung bzw. Vollstreckung zu Unrecht nicht aufgrund des Schiedsspruchs versagt werden darf. Man muss folglich einstweilen darauf achten, dass die – eigentlich irrelevanten – „Grundregeln“ der EuGVVO eingehalten werden, um zu verhindern, dass Schiedssprüche durch spätere mitgliedstaatliche Entscheidungen wertlos werden.