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Zitiervorschlag: Bietmann, LRZ 2022, Rn. 1, [●], www.lrz.legal/2022Rn1.
Permanente Kurz-URL: LRZ.legal/2022Rn1
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat mit Urteil vom 10.11.2021, Az. 5 AZR 334/21, entschieden, dass Fahrradlieferanten (sogenannte „Rider“), die Speisen und Getränke ausliefern und ihre Aufträge über ein Smartphone erhalten, Anspruch darauf haben, dass der Arbeitgeber ihnen die für die Ausübung ihrer Tätigkeit essentiellen Arbeitsmittel zur Verfügung stellt. Hierzu gehören ein verkehrstüchtiges Fahrrad und ein Smartphone. Dieser Anspruch kann nicht durch Allgemeine Geschäftsbedingungen (AGB) abbedungen werden, es sei denn, der Arbeitgeber sagt eine angemessene finanzielle Kompensation zu.
Geklagt hat ein Fahrradkurier, der Bestellungen von Speisen und Getränken, die Kunden über das Internet anfordern, bei verschiedenen Restaurants abholt und diese zu ihnen nach Hause bringt. Die Adressen der Restaurants und der Kunden werden dem Fahrradlieferanten vom Arbeitgeber via Smartphone mit der hierfür verwendeten App mitgeteilt. Für die Lieferfahrten nutzt er sein eigenes Fahrrad und sein eigenes Smartphone. Die Verpflichtung dazu ergibt sich aus den arbeitsvertraglichen Vereinbarungen der Parteien, bei denen es sich um Allgemeine Geschäftsbedingungen handelt. Die Beklagte gewährt den bei ihr tätigen Fahrradlieferanten eine Reparaturgutschrift von 0,25 € pro Arbeitsstunde, die lediglich bei einem von ihr bestimmten Unternehmen eingelöst werden darf.
Der Kläger verlangte mit seiner Klage, dass die Beklagte ihm ein verkehrstüchtiges Fahrrad und ein geeignetes Smartphone mit Datennutzungsvolumen für seine vertraglich vereinbarte Tätigkeit zur Verfügung stellt. Er war der Ansicht, dass die Beklagte hierzu verpflichtet sei, weil es in den Aufgaben- und Verantwortungsbereich des Arbeitgebers falle, die notwendigen Arbeitsmittel bereitzustellen. Dieser Grundsatz sei vertraglich nicht wirksam abbedungen worden.
Die Beklagte beantragte Klageabweisung und machte geltend, dass die vertragliche Regelung wirksam sei. Denn die als Fahrradlieferanten beschäftigten Arbeitnehmer seien ohnehin im Besitz dieser Gegenstände und würden durch die Verwendung ihrer eigenen Geräte nicht unangemessen belastet. Zudem könnten etwaige Nachteile durch den gesetzlich vorgesehenen Aufwendungsersatz geltend gemacht werden und durch das von ihr hinsichtlich des Fahrrades gewährte Reparaturbudget ausgeglichen werden.
In erster Instanz beim Arbeitsgericht Frankfurt am Main hatte der Fahrradkurier keinen Erfolg,1 dafür aber in zweiter Instanz beim Hessischen Landesarbeitsgericht, welches das erstinstanzliche Urteil aufhob.2 Auch das BAG gab dem Kläger in seiner Entscheidung Recht.3
In der Pressemitteilung des BAG4 heißt es hierzu, dass die in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen des Arbeitgebers vereinbarte Nutzung des eigenen Fahrrads und Smartphones den Kläger unangemessen benachteilige im Sinne von § 307 Abs. 2 Nr. 1 in Verbindung mit Abs. 1 Satz 1 BGB und daher unwirksam sei.
Die Beklagte werde durch die arbeitsvertragliche Regelung von entsprechenden Anschaffungs- und Betriebskosten entlastet und trage nicht das Risiko, für Verschleiß, Wertverfall, Verlust oder Beschädigung der essentiellen Arbeitsmittel einstehen zu müssen. Vielmehr werde dieses Risiko auf den Kläger abgewälzt, was wiederum dem gesetzlichen Grundgedanken des Arbeitsverhältnisses widerspreche, wonach der Arbeitgeber die für die Ausübung der vereinbarten Tätigkeit wesentlichen Arbeitsmittel zu stellen und für deren Funktionsfähigkeit Sorge zu tragen.
In dem vorliegenden Fall fehle es an einer ausreichenden Kompensation dieses Nachteils. Die gesetzlich vorgesehene Möglichkeit, über § 670 BGB Aufwendungsersatz verlangen zu können, stelle keine angemessene Kompensation dar. Ferner stelle das dem Kläger zur Verfügung gestellte Reparaturbudget keinen angemessenen Ausgleich dar, weil sich dessen Höhe nicht an der Fahrleistung orientiere, sondern nur an der damit zusammenhängenden Arbeitszeit, und der Kläger über das Budget nicht frei verfügen könne, sondern es lediglich bei einem vom Arbeitgeber bestimmten Unternehmen einlösen könne. Darüber hinaus sei kein finanzieller Ausgleich für die Nutzung des Smartphones vorgesehen.
Deshalb könne der Kläger von der Beklagten nach § 611a Abs. 1 BGB verlangen, dass diese ihm die für die vereinbarte Tätigkeit als „Rider“ notwendigen essentiellen Arbeitsmittel bereitstelle. Dies seien vorliegend ein geeignetes verkehrstüchtiges Fahrrad und ein geeignetes Smartphone, auf das die Lieferaufträge und -adressen mit der hierfür verwendeten App übermittelt werden könnten. Zudem sei die Beklagte verpflichtet, die Betriebsmittel tatsächlich zur Verfügung zu stellen, da der Kläger nicht auf nachgelagerte Ansprüche wie Aufwendungsersatz oder Annahmeverzugslohn verwiesen werden könne.
Zu Recht weist das BAG in seiner Entscheidung darauf hin, dass es nach der gesetzlichen Ausgangskonstellation Aufgabe des Arbeitgebers ist, dem Arbeitnehmer die für die Ausübung seiner Tätigkeit essentiellen Arbeitsmittel zur Verfügung zu stellen und diese Verpflichtung nicht bzw. nicht ohne Gegenleistung auf den Arbeitnehmer abgewälzt werden darf. Dies gilt umso mehr für Tätigkeiten, die wie hier an der Grenze des gesetzlichen Mindestlohns vergütet werden.
Die für die Erbringung der Arbeitsleistung notwendigen Betriebsmittel hat gemäß den §§ 611a, 615 S. 3, 618 BGB der Arbeitgeber zur Verfügung zu stellen. Der Arbeitnehmer schuldet nach § 611a BGB seine Arbeitskraft, aber keine Investitionen zur Erbringung der Arbeitsleistung. Ferner liegt § 615 S. 3 BGB die Wertung zugrunde, dass der Arbeitgeber das Betriebsrisiko trägt. § 618 BGB legt wiederum fest, dass der Arbeitgeber die Vorrichtungen und Gerätschaften zur Verrichtung der Arbeit zu beschaffen hat. Für die Ausstattung mit Arbeitsmaterial ist demnach der Arbeitgeber verantwortlich.
In der betrieblichen Praxis schafft der Arbeitgeber regelmäßig die erforderlichen Gegenstände auf eigene Kosten selber an und überlässt diese dem Mitarbeiter zur Nutzung. Dies bietet zugleich den Vorteil, dass der Arbeitgeber Eigentümer der Arbeitsmittel bleibt und damit nicht nur deren Herausgabe verlangen, sondern auch eine Privatnutzung der Arbeitsmittel bzw. eine Überlassung an Dritte untersagen kann.
Nach der gesetzlichen Wertung hat der Kläger im vorliegenden Fall Anspruch auf die Stellung der für die Ausübung seiner Tätigkeit notwendigen Arbeitsmittel gegenüber seinem Arbeitgeber. Für die Erfüllung seiner arbeitsvertraglich geschuldeten Leistung als Fahrradlieferant gehören hierzu zwingend ein verkehrstüchtiges Fahrrad und ein internetfähiges Smartphone mit Datenvolumen.
Das BAG geht in seiner Entscheidung vom 10.11.2021 davon aus, dass die gesetzliche Regelung, wonach der Arbeitgeber die notwendigen Betriebsmittel zu stellen hat, zwischen den Parteien im konkreten Fall nicht wirksam abbedungen wurde, weil eine kompensationslose arbeitsvertragliche Regelung den Anspruch auf die Stellung der benötigten Betriebsmittel nicht ausschließen kann.
Dies bedeutet, dass der Arbeitnehmer nicht auf seinen Kosten für die Nutzung der privaten Ausrüstung sitzen bleibt, weil er ansonsten unangemessen benachteiligt wird und der Arbeitgeber das unternehmerische Risiko nicht einseitig auf seine Mitarbeiter abwälzen darf, ohne dies finanziell auszugleichen.
Das BAG stellt damit allerdings auch klar, dass eine von der gesetzlichen Wertung abweichende Regelung in vertraglichen Vereinbarungen bzw. AGB grundsätzlich zulässig ist, wenn dem Arbeitnehmer für die Nutzung eigener Arbeitsmittel eine angemessene finanzielle Kompensationsleistung seitens des Arbeitgebers zugesagt wird. Pauschale Abgeltungsvereinbarungen bleiben also möglich.
Bezüglich der angemessenen Höhe der Aufwandspauschale für vom Arbeitnehmer zur Verfügung gestellten privaten Arbeitsmittel macht das BAG in seiner Entscheidung jedoch keine konkreten Angaben. Gutschriften für Fahrradreparaturen in geringem Umfang lässt es jedenfalls nicht genügen. In Betracht kommt ein finanzieller Ausgleich, etwa durch Zahlung einer Aufwandspauschale in Höhe der ortsüblichen Monatsmiete für ein vergleichbares Fahrrad bzw. Smartphone.
Das BAG stärkt mit seiner Entscheidung die Rechtsposition von Fahrradlieferanten, indem es klarstellt, dass arbeitsrechtliche Standards nicht ohne weiteres zu Lasten der Arbeitnehmer eingeschränkt werden dürfen, und stellt damit ein Mindestmaß an Arbeitnehmerschutz sicher.
In dem Zusammenhang sei auch auf das sogenannte „Crowdworker“-Urteil des BAG hingewiesen,5 in dem es einen über eine Online-Plattform („Crowdworker“) kleinteilige Aufträge zur Abarbeitung annehmenden, vermeintlich selbständigen Auftragnehmer als Arbeitnehmer qualifiziert hat. Nach der vorliegenden Entscheidung sind Fahrradkuriere, die nach den engen Vorgaben des via App vermittelnden und koordinierenden Unternehmens Essen und Getränke an Kunden ausliefern, in die Betriebsstruktur eingebunden und damit weisungsabhängig. Sie genießen folglich Arbeitnehmerstatus.