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Zitiervorschlag: Lorenz, LRZ 2022, Rn. 19, [●], www.lrz.legal/2022Rn19.

Permanente Kurz-URL: LRZ.legal/2022Rn19

Google darf in neue Geschäftsbereiche vordringen, dabei aber die bereits vorhandenen Anbieter nicht benachteiligen. Dies hat das Gericht der Europäischen Union bestätigt. Das Self Preferencing ist als Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung iSd Art 102 AEUV verboten.

1. Einleitung

Das Unternehmen Alphabet sieht sich – wie andere Internet-Giganten – einer zunehmenden Anzahl von Kartellverfahren ausgesetzt. Die Kartellbehörden untersuchen dabei oftmals Geschäftspraktiken, die zuvor nur vereinzelt oder gar nicht Gegenstand der Entscheidungspraxis waren.1 Dazu gehört auch das sog. Self Preferencing, also die Bevorzugung eigener Angebote gegenüber Drittangeboten durch einen Marktbeherrscher. Oftmals werden trotz der Novität der Vorwürfe dann Rekord-Geldbußen verhängt. Das Gericht der Europäischen Union hat nun in einem Urteil den Geldbußenbeschluss der Europäischen Kommission in der Sache Google Shopping2 überprüft und in weiten Teilen aufrechterhalten.3 Das von Google angewandte Self Preferencing beurteilt es darin unter Verweis auf ein einziges älteres Urteil und bestätigt die Geldbuße in Höhe von 2,4 Mrd. Euro. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

Rn19

2. Zum faktischen Hintergrund des Urteils

Das Urteil betrifft die früheren Geschäftspraktiken von Google im Bereich der Preisvergleichs- und Einkaufssuchmaschinen. Google betrat dieses Geschäftsfeld im Jahr 2002, ebenso wie andere Anbieter von Suchmaschinen wie Alta Vista, Yahoo oder America On Line (AOL). Der Bedarf für derartige Dienstleistungen ergab sich daraus, dass die „normalen“ Suchen nicht immer die relevantesten Ergebnisse für Preisvergleiche oder Einkaufsmöglichkeiten ergeben. Es wurden deshalb neue Algorithmen programmiert, die Daten auswerten, die von Verkäufern zur Verfügung gestellt werden (sog. „Produktsuche“). Eine allgemeine Google-Suche wertet hingegen den Inhalt von Internetseiten mit Hilfe des sog. Crawling aus. Die Produktsuche wurde zunächst über eine eigene Internetseite unter der Marke „Froogle“ angeboten. Später wurde die Produktsuche in die allgemeine Google-Seite integriert. Die Ergebnisse der Produktsuche werden dort hervorgehoben von den allgemeinen Suchergebnissen angezeigt. Andere Preisvergleichs- und Einkaufssuchmaschinen erschienen dabei nur in den allgemeinen Suchergebnissen.

Rn20

Die Darstellung der Ergebnisse der Google-Produktsuche änderte sich im Lauf der Zeit mehrfach. Von der „Product OneBox“ ging es über „Product Universals“ weiter zu „Shopping Unit“. Das Urteil des EuG enthält Abbildungen der einzelnen Darstellungsweisen. Den unterschiedlichen Anzeigevarianten blieb gemeinsam, dass die Ergebnisse der Google-Produktsuche graphisch auffälliger präsentiert wurden als die Ergebnisse zu anderen Vergleichsportalen. Diese erschienen nur als blauer Link in den allgemeinen Suchergebnissen. Es kam dabei vor, dass diese Drittergebnisse relevanter waren als die Ergebnisse der Google-Produktsuche. Ab einem bestimmten Zeitpunkt beeinflusste Google deshalb das Ranking der Suchergebnisse durch die sog. Panda-Software, durch welche Links zu anderen Vergleichsportalen in den Suchergebnissen nach unten verschoben wurden, zum Teil auf die zweite oder dritte Seite der Suchergebnisse. Die Relevanz und das Ranking von Drittanbietern wurden auf diese Weise entkoppelt. Der sog. Traffic auf den Seiten von Drittanbietern nahm daraufhin ab.

Rn21

3. Der Geldbußenbeschluss der Europäischen Kommission

Mehrere Unternehmen reichten ab November 2009 Beschwerden bei der Europäischen Kommission ein. Die Kommission leitete daraufhin ein Ermittlungsverfahren nach Art. 2 Abs. 1 VO 773/2004 ein. Sie gelangte dabei zu der vorläufigen Einschätzung, dass die Bevorzugung der Ergebnisse der Google-Produktsuche durch hervorgehobene Darstellung gegenüber Links zu den Ergebnissen anderer Vergleichsportale geeignet ist, als Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung Art. 102 AEUV zu verletzen. Die Kommission strebte dabei einen Verfahrensabschluss durch eine Zusagenentscheidung nach Art. 9 VO 1/2003 an. Google lehnte die rechtliche Bewertung der Kommission ab, reichte in der Folgezeit aber drei Fassungen von Vorschlägen für Zusagen ein. Die Beschwerdeführer erklärten die angebotenen Zusagen im Rahmen ihrer Anhörung für unzureichend und überzeugten die Kommission davon, das Verfahren nicht durch eine Zusagenentscheidung zu beenden, sondern durch eine Geldbuße. Die Kommission ging deshalb zu einem Verfahren nach Art. 7 Abs. 1 VO 1/2003 und übersandte Google im April 2015 eine Mitteilung der Beschwerdepunkte. Die Rückäußerungen von Google und den Beschwerdeführern sowie weiteren Betroffenen verarbeitete die Kommission in einer geänderten Fassung der Mitteilung der Beschwerdepunkte, die im Juli 2016 an Google übermittelt wurde. Nach Erhalt der Stellungnahme von Google teilte die Kommission in einem „Letter of Facts“ Google ergänzend mit, dass der bevorstehende Geldbußenbeschluss noch auf weitere Beweismaterialien in der Akte der Kommission gestützt werden solle.

Rn22

Im Juli 2017 erließ die Kommission dann einen Geldbußenbeschluss gegen Google. Darin wird Google ein Verstoß gegen Art. 102 AEUV durch bevorzugte Anzeige und Darstellung der Ergebnisse der eigenen Produktsuche in den allgemeinen Suchergebnissen zur Last gelegt. Für diesen Verstoß verhängte die Kommission eine Geldbuße von ca. 2,4 Mrd. Euro.

Rn23

4. Das Urteil des Gerichts der Europäischen Union

4.1. Angriffe von Google gegen den Geldbußenbeschluss

Google focht den Geldbußenbeschluss der Kommission an und stützte sich dabei auf sechs Angriffspunkte.4 Soweit diese in dem Urteil des Gerichts wiedergegeben werden, blendete Google den Einsatz der Panda-Software weitgehend aus und rückte die Verbesserung des eigenen Angebots in den Vordergrund. Diese wurde als pro-kompetitiv und als Ausdruck des Leistungswettbewerbs dargestellt. Übereinstimmend damit nahm Google auch eine sachliche Rechtfertigung (Efficiency Defence) für sich in Anspruch, weil von den innovativen Produktverbesserungen auch Händler und Verbraucher profitierten.

Rn24

Die Angriffspunkte sind in sechs Themenkomplexe gegliedert.

Rn25

Zunächst verteidigt sich Google mit dem Argument, es habe keine Bevorzugung des Google Comparison Shopping Service durch Anzeigen von Product Universals und Shopping Units stattgefunden. Die Ergebnisse der Produktsuche und die Ergebnisse der allgemeinen Suche basierten auf unterschiedlichen Algorithmen, die unterschiedlichen Zwecken dienen und deshalb nicht gleichbehandelt zu werden bräuchten.

Rn26

Als zweites Verteidigungsargument bringt Google vor, die streitgegenständlichen Praktiken seien sachlich gerechtfertigt. Durch Product Universals und Shopping Units verbessere sich das Benutzererlebnis.

Rn27

Google beruft sich sodann darauf, dass es zu keiner Umleitung von Search Traffic durch die hervorgehobene Positionierung und Anzeige von Product Universals und Shopping Units gekommen sei. Die Product Universals seien zur eigenen Qualitätssteigerung eingeführt worden und nicht zur Umlenkung von Traffic.

Rn28

Die Ausführungen der Kommission zu wettbewerbsbeschränkenden Auswirkungen erklärt Google als viertes Verteidigungsargument zu unbegründeten Spekulationen. Es sei nicht erwiesen, dass die Praktiken zu höheren Preisen für Verkäufer und Verbraucher und zu weniger Innovation führten. Auch sei die Rolle der Merchant Plattforms (amazon etc.) nicht ausreichend berücksichtigt worden.

Rn29

Google verweist auch auf Rechtsfehler der Kommission durch Bewertung von wettbewerbskonformen Qualitätsverbesserungen als missbräuchlich. Google verteidigt sein Verhalten insgesamt als Ausdruck des Leistungswettbewerbs und nicht als Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung. Teil der rechtlichen Argumentation ist der Vorwurf, die Kommission gewähre Dritten einen Zugangsanspruch zu den Angeboten von Google, ohne dass die Voraussetzungen eines solchen Zugangsanspruchs nach der Essential Facilities Doctrine vorlägen.

Rn30

Google macht auch Fehler bei der Verhängung der Geldbuße geltend. Die Kommission habe erstmals eine Qualitätsverbesserung als Missbrauch eingestuft. Zudem sei zunächst eine Zusagenentscheidung angestrebt worden. Die Verhängung einer Geldbuße in Milliardenhöhe sei deshalb unzulässig.

Rn31

4.2. Die Erwägungen des Gerichts

Wie in Verfahren vor den Unionsgerichten üblich, strukturiert das Gericht die Angriffspunkte neu. Es erörtert zunächst die von Google geltend gemachten Rechtsfehler, und zwar schwerpunktmäßig ob die streitgegenständlichen Praktiken als Mittel des Leistungswettbewerbs oder als Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung anzusehen sind. Das Gericht prüft im Anschluss daran das Argument, dass den Anbietern von Preisvergleichs- und Einkaufsportalen ein Zugangsanspruch zu den Shopping Units eingeräumt werde, ohne dass die Voraussetzungen eines solchen Zugangsanspruchs vorlägen.

Rn32

4.2.1. Praktiken von Google wettbewerbskonform?

Zur Beurteilung der Frage, ob die Praktiken von Google als Mittel des Leistungswettbewerbs oder als Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung anzusehen sind, leitet das Gericht zunächst aus der vorhandenen Rechtsprechung den rechtlichen Rahmen ab. Dabei betont das Gericht durchgängig die besondere Verantwortung marktbeherrschender Unternehmen für die Existenz- und Entwicklungsmöglichkeiten ihrer kleineren Wettbewerber.5

Rn33

Das Gericht erinnert daran, dass ein marktbeherrschendes Unternehmen eine besondere Verantwortung dafür trägt, dass sein Verhalten den wirksamen und unverfälschten Wettbewerb auf dem Gemeinsamen Markt nicht beeinträchtigt. 6 Das Gericht knüpft dabei an das Intel-Urteil an.7

Rn34

Dieser Obersatz wird weiter konkretisiert durch den Verweis darauf, dass (marktbeherrschende) Unternehmen nur die Mittel des Leistungswettbewerbs einsetzen dürfen.8 Das Gericht stützt sich hier u.a. auf das Post Danmark-Urteil.9 Art. 102 AEUV erfasst danach Verhaltensweisen eines marktbeherrschenden Unternehmens, die zum Nachteil der Verbraucher die Aufrechterhaltung oder den Ausbau des auf dem Markt noch bestehenden Wettbewerbs oder die Entwicklung dieses Wettbewerbs durch die Verwendung von Mitteln behindern, die von den Mitteln des Leistungswettbewerbs abweichen.

Rn35

Die Verpflichtung marktbeherrschender Unternehmen zur Nutzung nur der Mittel des Leistungswettbewerbs wird ebenfalls aus den Intel- und Post Danmark-Urteilen abgeleitet.10 Art. 102 AEUV verbietet marktbeherrschenden Unternehmen danach die Verwendung anderer Mittel als denjenigen des Leistungswettbewerbs.11

Rn36

Das Gericht begegnet dem Verteidigungsargument, dass die Verbraucher durch die Praktiken von Google keinen Nachteil erlitten hätten, weil Google lediglich sein eigenes Angebot verbessert habe, mit einer weiteren Bezugnahme auf das Post Danmark-Urteil.12 Dort findet sich die Aussage, Art. 102 AEUV erfasse nicht nur Verhaltensweisen, durch die den Verbrauchern ein unmittelbarer Schaden erwachsen kann, sondern auch solche, die sie durch die Beeinträchtigung des Wettbewerbs schädigen.13 Eine solche zumindest mittelbare Schädigung der Verbraucher sieht das Gericht auch in den Praktiken von Google.

Rn37

Das Gericht erkennt an, dass Leistungswettbewerb definitionsgemäß dazu führen kann, dass Wettbewerber, die weniger leistungsfähig und daher für die Verbraucher im Hinblick insbesondere auf Preise, Auswahl, Qualität oder Innovation weniger interessant sind, vom Markt verschwinden oder bedeutungslos werden.14 Das Gericht führt hier wiederum die Rechtsprechung in der Sache Intel fort.15 Wenn andere Preisvergleichs- oder Einkaufsportale den Markt verlassen müssen, ist dies somit nicht notwendigerweise Google anzulasten. Es kommt vielmehr darauf an, ob ein solcher Marktaustritt auf ein Verhalten von Google zurückzuführen ist, das von demjenigen des Leistungswettbewerbs abweicht.

Rn38

Das Urteil betont die Bedeutung der konkreten Umstände im Einzelfall für die für das marktbeherrschende Unternehmen geltenden Verhaltenspflichten zum Schutz seiner kleineren Rivalen.16 Das Gericht zitiert hier das Urteil in der Sache Telia Sonera.17 Dort wurde festgehalten, dass der Umfang der besonderen Verantwortung, die ein marktbeherrschendes Unternehmen trägt, anhand der spezifischen Umstände des jeweiligen Einzelfalls zu ermitteln ist, die eine Situation geschwächten Wettbewerbs erkennen lassen.

Rn39

Die Abweichung von den Mitteln des Leistungswettbewerbs sieht das Gericht vorrangig darin, dass Google die eigenen Suchergebnisse gegenüber den Suchergebnissen Dritter bevorzugt und damit den Prinzipien zuwiderhandelt, die zu dem Erfolg der Suchmaschine geführt haben.18 Die allgemeine Suche der Suchmaschine zeichnet sich dadurch aus, dass die Ergebnisse des „Crawlings“ über Internetseiten geordnet nach ihrer Relevanz präsentiert werden. Auf diese Weise hat Google sich zu einer attraktiven Suchmaschine mit einem hohen Marktanteil entwickelt. Bei der Produktsuche werden hingegen abweichende Algorithmen und Datengrundlagen verwendet, die zu einer anderen Bewertung der Relevanz der Suchergebnisse führen. Durch die Panda-Software wird die Anzeige der Suchergebnisse dann noch weiter beeinflusst. Dies beinhaltet eine gewisse Form der „Anomalie“, welche zu einer Beweislastumkehr führe. Google müsse die unterschiedliche Behandlung deshalb rechtfertigen. Die von Google angebotenen Rechtfertigungen hält das Gericht für unzureichend, insbesondere der Einsatz der Panda-Software zur Abwertung der Relevanz von Drittergebnissen wird dabei als problematisch angesehen. Das Gericht erwähnt hier ausdrücklich, die Abwertung der Relevanz von Drittergebnissen werde selbst von Google nicht als Teil des Leistungswettbewerbs beschrieben.19

Rn40

4.2.2. Unzulässige Diskriminierung?

In dem Urteil wird auch die Frage erörtert, ob Google durch die Anwendung der unterschiedlichen Algorithmen für die allgemeine Suche und für die Produktsuche eine unzulässige Diskriminierung vorgenommen habe. Google greift den Geldbußenbeschluss u.a. mit dem Argument an, dass eine unzulässige Diskriminierung nicht vorliege, weil Google die Ergebnisse innerhalb der jeweiligen Suchen nicht unterschiedlich behandelt habe. Es sei also nicht Gleiches ungleich behandelt worden.

Rn41

Das Gericht weist dieses Argument zurück.20 Aus dem Diskriminierungsverbot in der Richtlinie (EU) 2015/2120 (Internetzugang) und der Verordnung 531/2012 (Roaming) sei abzuleiten, dass auch ein marktbeherrschender Anbieter einer Suchmaschine nicht diskriminieren darf. Diese Ableitung des Diskriminierungsverbots mag im kartellrechtlichen Kontext überraschen, weil Art. 102 Abs. 2 lit. c) AEUV selbst ein Diskriminierungsverbot enthält. Dieses ist jedoch an das Vorliegen weiterer Voraussetzungen geknüpft, nämlich dass es sich bei den unterschiedlich behandelten Handelspartnern um Wettbewerber handelt und dass diese im Wettbewerb benachteiligt werden. Diese Voraussetzungen kennt das allgemeine Diskriminierungsverbot nicht. Es richtet sich im Ausgangspunkt an staatliche Institutionen und ist den Grundrechten zuzurechnen. Unternehmen sind jedoch nur im Ausnahmefall einem Diskriminierungsverbot unterworfen, etwa wenn ihnen eine marktbeherrschende Stellung zukommt, aufgrund derer sie eine besondere Verantwortung für den Wettbewerb auch auf einem nachgelagerten Markt tragen.

Rn42

Im Ergebnis ist jedoch richtig, dass ein Diskriminierungsverbot besteht. Dieses ist nach dem Urteil verletzt, weil die Drittergebnisse als Suchergebnisse im Rahmen der allgemeinen Google-Suche in Form eines blauen Links erscheinen, während die Ergebnisse der Google-Produktsuche besonders hervorgehoben sind. Die Diskriminierung tritt nach dem Urteil auf dem Markt für allgemeine Suchmaschinen auf und nicht auf dem Markt für spezialisierte Suchen.21

Rn43

4.2.3. Keine tatbestandsmäßige Zugangsverweigerung durch Google

Google meint, die Kommission verpflichte Google dazu, anderen Unternehmen Zugang zu seinen verbesserten Dienstleistungen (nämlich der Shopping Unit) zu gewähren, ohne dass die Voraussetzungen für einen solchen Zugangsanspruch vorlägen. Insbesondere fehle es an der mangelnden Duplizierbarkeit der Shopping Unit als angeblicher Essential Facility.

Rn44

Das Gericht weist diesen Einwand zurück und leistet damit einen Beitrag zur Abgrenzung der verschiedenen Missbrauchstatbestände untereinander. Das Gericht zitiert zunächst die Argumentation der Kommission, dass das missbräuchliche Hebeln von Marktmacht eine anerkannte eigenständige Art des Missbrauchs sei, bei der der Marktbeherrscher seine Marktmacht auf dem beherrschten Markt mit Mitteln außerhalb des Leistungswettbewerbs dazu missbraucht, seine Marktposition auf einem anderen Markt auszubauen. Es sei deshalb nicht erforderlich, auf die Fallgruppe der Zugangsverweigerung zu rekurrieren.22 Zudem handele es sich bei dem Verhalten von Google nicht um eine passive Zugangsverweigerung, sondern um die aktive Förderung der eigenen Dienstleistungen gegenüber Drittangeboten. Die Fallgruppe der Zugangsverweigerung sei deshalb nicht einschlägig. Dies zeige sich auch daran, dass zur Beendigung des Missbrauchs die Zugangsgewährung nicht ausreichend wäre.23

Rn45

Das Gericht sieht Ähnlichkeiten der Google-Suchmaschine mit einer Essential Facility, weil der durch die Suchmaschine generierte Traffic für andere Shopping-Vergleichsportale unersetzlich ist.24 Eine Zugangsverweigerung setze aber eine ausdrückliche Zugangsanfrage und eine ausdrückliche Zugangsablehnung voraus. Diese Ablehnung an sich bilde den Missbrauch. Kommen weitere Abweichungen vom Leistungswettbewerb hinzu, bilden diese nach dem Urteil eine eigene Missbrauchskategorie. Die Kriterien für die Zugangsverweigerung gelten dann nicht.25

Rn46

Das Gericht begründet die fehlende Anwendbarkeit der Bronner-Rechtsprechung26 zu Zugangsansprüchen auch damit, dass die Berücksichtigung von Suchergebnissen Dritter in der Shopping Unit allein den Missbrauch nicht abstellen würde. Auch die Abwertung von Drittergebnissen bei den „normalen“ Suchergebnissen müsste unterbleiben.27

Rn47

5. Bewertung und Ausblick

Das Urteil des Gerichts ist insoweit bemerkenswert, dass es nach einer fast 25-jährigen Pause erstmals wieder einen Fall des Self Preferencing betrifft. Zu dieser Fallkonstellation war bisher nur das Urteil des Gerichtshofs von 1997 in der Sache GT-Link vorhanden.28 Das Urteil in der Sache GT-Link betrifft den Fährverkehr zwischen dem dänischen Hafen Gedser und den deutschen Häfen Travemünde und Rostock. Im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens war die Frage zu beantworten, ob der dänische Staat gegen Art. 102 Abs. 2 lit. c) AEUV verstößt, wenn er von privaten Fährlinien Hafengebühren für die Nutzung des Hafens in Gedser verlangt, während diese Gebühren von einer staatseigenen Fährgesellschaft nicht erhoben werden. Der Gerichtshof entschied, dass hier der Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung vorliege, weil miteinander im Wettbewerb stehende Unternehmen durch den Marktbeherrscher ungleich behandelt würden. Die Zugehörigkeit des staatlichen Fährlinienbetreibers zu demselben „Unternehmen“ dänischer Staat wird hier aber nicht besonders thematisiert. Es war deshalb nicht klar, ob es sich um eine Einzelfallentscheidung des Gerichtshofs handelt oder ob die vorgenommene Bewertung verallgemeinerungsfähig ist. Es erschien deshalb mutig, dass die Europäische Kommission ihren Geldbussenbeschluss gegen Google auf einen Missbrauchstatbestand stützt, der nur mit einem einzigen Urteil aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union getragen wird. Dies gilt umso mehr, als das Urteil in der Sache GT-Link in dem Geldbußenbeschluss der Kommission gar nicht zitiert wird. Auch dies trug zu der Unsicherheit bei, ob die EU-Institutionen selbst das Urteil für heute noch beachtlich halten.29 Das Urteil des Gerichts bestätigt nun, dass es sich bei GT-Link nicht um eine Einzelfallentscheidung handelt, sondern um das Fundament einer Rechtsprechungslinie, die nun fortgesetzt wird. Eine Unsicherheit bestand auch deshalb, weil gerade im deutschen Kartellrecht die gegenteilige Auffassung anzutreffen ist.30 Mit dieser setzt sich das Gericht auch in Rn. 248 seines Urteils auseinander. Das Gericht diskutiert diesen Ansatz in der deutschen Rechtsprechung allerdings nicht inhaltlich, sondern verweist insoweit auf die Rangordnung von unions- und nationalem Recht.31

Rn48

Dass das Self Preferencing gegen Art. 102 AEUV verstößt, wird in dem Urteil vielmehr ohne weitere Begründung vorausgesetzt. Neben dem Urteil in der Sache GT-Link verweist das Gericht in Rn. 155 des Urteils noch auf weitere Urteile, die aber nicht die Konstellation des Self Preferencing zum Gegenstand haben, also die Situation, dass ein marktbeherrschendes Unternehmen interne und externe Kunden unterschiedlich behandelt, indem es konzernzugehörigen Gesellschaften bessere Konditionen gewährt als konzernfremden Unternehmen. Die zitierten Urteile in den Sachen Aéroports de Paris32 und Irish Sugar33 enthalten lediglich die Aussage, dass ein marktbeherrschendes Unternehmen seine Kunden nicht unterschiedlich behandeln darf, wenn diese miteinander im Wettbewerb stehen. Die besondere Konstellation der Konzernzugehörigkeit eines Kunden wird darin aber nicht thematisiert. Das ebenfalls von dem Gericht zitierte Urteil in der Sache Arcelor Atlantique et Lorraine34 betrifft das Diskriminierungsverbot für den Gesetzgeber, also wiederum eine andere Konstellation. Dass staatliche Stellen einem Diskriminierungsverbot unterliegen, darf als allgemein anerkannt gelten. Der Fall des Self Preferencing eines marktbeherrschenden Unternehmens lässt sich aber anhand des Grundsatzes nicht sicher beurteilen.

Rn49

Eine interessante Frage wäre, ob das Urteil des Gerichts gleich ausgefallen wäre, wenn Google nicht die Panda-Software angewandt hätte. In diesem Fall hätte sich das Verhalten von Google auf die bessere Platzierung und Visualisierung der Ergebnisse der Produktsuche beschränkt. Einige Angriffspunkte von Google gegen das Urteil erfordern durchaus hohen Begründungsaufwand auf Seiten des Gerichts, solange mit den Aspekten bessere Platzierung und erhöhte Visualisierung argumentiert wird. Mit dem Hinweis auf die Panda-Software lässt sich dann aber jeder Einwand von Google gegen den Geldbußenbeschluss entkräften. Wenn es beispielsweise um die Frage des Leistungswettbewerbs geht, mag es argumentativ nicht einfach zu widerlegen sein, wenn Google insoweit eine Verbesserung der eigenen Produkte für sich in Anspruch nimmt. Spätestens aber mit dem Einsatz der Panda-Software werden derartige Rechtfertigungen abgeschnitten.

Rn49

Ein Urteil in der Rechtsmittelinstanz wird sicherlich seinen Schwerpunkt auf den Rechtsfragen haben, ob sich die von Google verwendeten Praktiken in den Grenzen des Leistungswettbewerbs halten und Google wird sicherlich auch noch einmal seine Argumentation zur Zugangsgewährung wiederholen. Die eher faktischen Argumente wie beispielsweise des fehlenden Nachweises einer Umleitung von Traffic hin zu Googles eigenen Angeboten können in der Rechtsinstanz keiner Rolle mehr spielen.

Rn50

Unabhängig vom Ausgang des Rechtsmittels werden sich Plattformen darauf einstellen müssen, dass sie in die Geschäftsmodelle ihrer Nutzer zwar eintreten, dabei ihr eigenes Angebot aber nicht besser behandeln dürfen als die Angebote ihrer Nutzer. Denn dies verlangt nicht nur das Urteil in der Sache GT-Link, sondern auch der durch die 10. GWB-Novelle eingeführte § 19a Abs. 2 Nr. 1 GWB. Der aktuelle Entwurf des EU Digital Markets Act sieht ebenfalls eine Eingrenzung des Self Preferencing vor.35

Rn51

Marktbeherrschende Unternehmen können aus dem Urteil zudem mitnehmen, dass sie als „Garanten des ungestörten Wettbewerbs“ angesehen werden36. Zu den Pflichten eines solchen Garanten gehört es, die möglichen Auswirkungen der eigenen Geschäftspraktiken auf ihre Wettbewerber zu berücksichtigen und ihr Verhalten daran auszurichten. Kartellbehörden dürfen sonst „ohne Vorwarnung“ bisher wenig in der Rechtsprechung behandelte Praktiken unter die offen formulierten Tatbestände des Kartellrechts subsumieren und hohe Geldbußen verhängen.

Rn52

 

1 Einen Überblick geben insoweit Hoffer/Lehr, NZKart 2019, 10.

2 EuGH, Beschluss v. 27.6.2017, Fall Nr. 39740, einsehbar unter https//ec.europa.eu/competition/antitrust/cases/dec_docs/39740/39740_14996_3.pdf.

3 Urteil v. 10.11.2021, Rs. T-612/17, ECLI:EU:T:2021:763.

4 Urteil Rn. 120.

5 Urteil Rn. 150 ff.

6 Urteil Rn. 150.

7 EuGH, Urteil v. 6.9.2017, Rs. C-413/14 P, ECLI:EU:C:2017:632, Rn. 135.

8 Urteil Rn. 151.

9 EuGH, Urteil v. 27.3.2012, Rs. C-209/10, ECLI:EU:C:2012:172, Rn. 24.

10 Urteil Rn. 152.

11 EuGH, Urteil v. 6.9.2017, Rs. C-413/14 P, ECLI:EU:C:2017:632, Rn. 136; EuGH, Urteil v. 27.3.2012, Rs. C-209/10, ECLI:EU:C:2012:172, Rn. 25.

12 Urteil Rn. 153.

13 EuGH, Urteil v. 27.3.2012, Rs. C-209/10, ECLI:EU:C:2012:172, Rn. 20.

14 Urteil Rn. 157.

15 EuGH, Urteil v. 6.9.2017, Rs. C-413/14 P, ECLI:EU:C:2017:632, Rn. 134.

16 Urteil Rn. 165.

17 EuGH, Urteil v. 17.2.2011, Rs. C‑52/09, ECLI:EU:C:2011:83, Rn. 84.

18 Urteil Rn. 179.

19 Urteil Rn. 187.

20 Urteil Rn. 180.

21 Urteil Rn. 285.

22 Urteil Rn. 212.

23 Urteil Rn. 212.

24 Urteil Rn. 224.

25 Urteil Rn. 232.

26 EuGH, Urteil v. 26.11.1998, Rs. C‑7/97, ECLI:EU:C:1998:569.

27 Urteil Rn. 245.

28 Urteil v. 17.7.1997, Rs. C-242/95, ECLI:EU:C:1997:376.

29 Auch in anderen Fällen des Self Preferencing hat die Kommission eine Bezugnahme auf das Urteil in der Sache GT-Link vermieden, beispielsweise in dem Beschluss v. 18.12.2013 im Fall AT.39678 (Bahnstrom). Dort wird mit einem Margin Squeeze argumentiert, obwohl es sich im Kern um eine bevorzugte Behandlung von Konzerngesellschaften des Marktbeherrschers gegenüber externen Kunden handelt.

30 Vgl. BGH, Urteil v. 24.10.2011, KZR 7/10, NJW 2012, 773, Rn. 31 – Grossistenkündigung; Urteil v. 31.1.2012, KZR 65/10, NJW 2012, 2110, Rn. 15 – Werbeanzeigen; Urteil v. 10.2.1987, KZR 6/86, WuW/E BGH 2360, Rn. 55 – Freundschaftswerbung.

31 Dabei ist auch in der Literatur das Self Preferencing als eigenständige Missbrauchskategorie durchaus Kritik ausgesetzt, vgl. Petit, Theories of Self-Preferencing under Article 102 TFEU: A Reply to Bo Vesterdorf, 2015 und Vesterdorf, Theories of Self-Preferencing and Duty to Deal – Two Sides of the Same coin? 2015.

32 EuGH, Urteil v. 24.10.2002, Rs. C‑82/01 P, ECLI:EU:C:2002:617, Rn. 114.

33 EuG, Urteil v. 7.10.1999, Rs. T‑228/97, ECLI:EU:T:1999:246, Rn. 140.

34 EuGH, Urteil v. 16.12.2008, Rs. C‑127/07, ECLI:EU:C:2008:728, Rn. 23.

35 Die vom EU-Parlament beschlossene letzte Fassung des Verordnungsentwurfs v. 21.12.2021 ist einsehbar unter https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2021-0499_EN.html.

36 Urteil Rn. 616.

 

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