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Haas, LRZ 2022, Rn. 348, [●], www.lrz.legal/2022Rn348.
Permanente Kurz-URL: LRZ.legal/2022Rn348
Der BGH erteilt richterlichen Internetrecherchen im Zivilprozess die Absolution. Dabei verkennt er, dass der „surfende Richter“ mit mehreren zivilprozessualen Grundsätzen in Konflikt gerät. Zudem eröffnen eigenständige Internetrecherchen, vor allem in Abwesenheit der Parteien, ein Einfallstor für kognitive Verzerrungen. Jedenfalls ist die Vorschrift des § 291 ZPO keine geeignete Rechtsgrundlage; in der Sache handelt es sich regelmäßig um eine Beweisaufnahme von Amts wegen.
Darf ein Zivilgericht im Zusammenhang mit einem bei ihm anhängigen Rechtsstreit im Internet recherchieren und, falls ja, unter welchen Voraussetzungen? Diese Fragestellung berührt ein klassisches Problem der Rechtswissenschaft, nämlich die Anwendung bestehender Vorschriften – hier der ZPO – auf neuartige Phänomene – hier die jederzeit verfügbare und stetig zunehmende Informationsfülle des Internets.
Mit der vorliegenden Entscheidung erteilt der BGH richterlichen Recherchen im Internet mit einem Federstreich die Absolution. Dabei ist bedauerlich, dass der BGH die Komplexität der Fragestellung, insbesondere die Wechselwirkungen mit verschiedenen zivilprozessualen Grundsätzen und Rechtsinstituten, nicht erkennt. Diese Entscheidung bedarf der Korrektur, sei es im Wege einer Rechtsprechungsänderung oder durch Eingreifen des Gesetzgebers.
In starkem Gegensatz zu ihrer Sprengkraft ist die Entscheidung des BGH mit lediglich 13 Randnummern sehr überschaubar. Der zugrundeliegende Sachverhalt ist eine klassische „Dieselklage“ wegen Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung für die Abgasreinigung, hier eines Käufers eines Audi-Pkw gegen die Audi AG.
Das OLG Zweibrücken als Berufungsgericht sprach dem Kläger einen Schadensersatzanspruch wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung aus § 826 BGB i.vomm. § 31 BGB analog zu.1 Zur Begründung seiner Entscheidung zu den objektiven und subjektiven Tatbestandsvoraussetzungen, insbesondere zu der erforderlichen Kenntnis von der Abschaltautomatik auch bei der Audi AG als Konzerntochter der VW AG, verwies das Berufungsgericht unter Nennung des § 291 ZPO auf ein nicht näher bezeichnetes „Konzern-Organigramm der VW AG“2 sowie eine Pressemitteilung der Audi AG vom 16. Oktober 2018 unter Angabe einer Internetadresse.3
Der BGH billigte dieses Vorgehen zumindest im Ausgangspunkt: Zu den offenkundigen Tatsachen im Sinne des § 291 ZPO gehörten auch solche, die das Gericht „dem Internet“ im Rahmen „seiner Ermittlungen“ entnommen habe.4 Allerdings müsse das Gericht, wenn es das Ergebnis seiner Internetrecherche zur Grundlage der Entscheidung machen wolle, dieses den Parteien zugänglich machen und ihnen durch einen Hinweis die Möglichkeit zur Stellungnahme geben.5 Ein Hinweis könne nur dann unterbleiben, wenn es sich um Umstände handele, die den Parteien ohne Weiteres gegenwärtig seien und von deren Entscheidungserheblichkeit siewüssten.6
Mit seiner knappen Begründung lässt der BGH richterliche Internetrecherchen im Zivilprozess in denkbar weitem Umfang zu. Denn als offenkundig im Sinne des § 291 ZPO sollen alle Tatsachen anzusehen sein, die das Gericht dem Internet – ohne jede Einschränkung! – im Wege eigenständiger Recherchen entnommen hat. Begrenzt werden diese Ermittlungsbefugnisse nur durch eine Hinweispflicht aufgrund des Gebots des rechtlichen Gehörs.
Damit führt der BGH seine bisherige Rechtsprechung fort7 und hat wohl auch den überwiegenden Teil der obergerichtlichen Rechtsprechung8 und des Schrifttums auf seiner Seite.9 Gleichwohl verdient die Entscheidung aus mehreren Gründen deutliche Kritik.
Blickt man zunächst auf das Fundament des Zivilprozesses, fällt ins Auge, dass der „surfende Richter“10 mit gleich mehreren Grundsätzen in Konflikt gerät. Dies gilt zunächst für den Beibringungsgrundsatz, wonach den Parteien der Vortrag der Tatsachen und im Ausgangspunkt auch die Beschaffung der Beweismittel obliegt.11 Schwerer noch wiegt das Gebot richterlicher Unparteilichkeit, das dem Gericht nach allgemeiner Ansicht den Erwerb und die Verwertung privaten Wissens (insbesondere: privaten Augenscheins) verbietet.12 Auch der Grundsatz der Parteiöffentlichkeit und die Mitwirkungsrechte der Parteien, insbesondere bei der Beweisaufnahme (§ 357 ZPO), bereiten Probleme.13
Der vom BGH bemühte § 291 ZPO enthält zwar eine Ausnahme zu den vorgenannten Grundsätzen, trägt die weite Auslegung des BGH jedoch nicht. Die Vorschrift ist schlicht keine geeignete Rechtsgrundlage für eigenständige (Internet-)Recherchen des Gerichts.14 Zur Erinnerung: § 291 ZPO hat den lapidaren Wortlaut „Tatsachen, die bei dem Gericht offenkundig sind, bedürfen keines Beweises.“ Sinn und Zweck der Vorschrift ist die Vermeidung überflüssiger Beweisaufnahmen im Interesse der Prozessökonomie.15
Zur Zulässigkeit richterlicher Internetrecherchen auf der Grundlage des § 291 ZPO gelangt die herrschende Ansicht durch eine extensive Auslegung der Vorschrift, die unausgesprochen auch der Entscheidung des BGH zugrunde liegen dürfte.16 Danach werden erstens als allgemeinkundig im Sinne der Vorschrift auch solche Tatsachen angesehen, über die man sich aus allgemein zugänglichen und zuverlässigen Quellen informieren kann. Zweitens soll das Gericht befugt sein, in derartigen Quellen selbst zu recherchieren und die Erkenntnisse nach entsprechendem Hinweis in den Prozess einzuführen.17 Im Ergebnis soll die Vorschrift auf dieser Grundlage ein „vereinfachtes Beweisverfahren“ ermöglichen.18
Diese extensive Auslegung des § 291 ZPO hat mit dem Wortlaut und dem Sinn und Zweck der Vorschrift erkennbar nur noch wenig zu tun.19 Sie zwingt auch zu diversen Rückausnahmen und Einschränkungen der Ermittlungsbefugnis – etwa nach „Seriosität“ der Quelle oder „Tiefe“ der Recherche – um diese nicht ausufern zu lassen.20 Die vorliegende Entscheidung des BGH enthält schließlich gar keine Begrenzung der zulässigen Ermittlungen im Internet mehr. Bei Informationen aus dem Internet, so scheint es, sollen die vorgenannten Grundsätze des Zivilprozesses in ihr Gegenteil verkehrt werden.
Sofern die Internetrecherche nicht im Beisein der Parteien erfolgt – was derzeit regelmäßig der Fall sein dürfte – bleibt zudem offen, welche Informationen das Gericht sieht und bewusst oder unbewusst in seine Entscheidungsfindung einfließen lässt, aber nicht ausdrücklich der Entscheidung zugrunde legt. Die parallele Diskussion der Problematik im US-amerikanischen Recht hat gezeigt, dass gerade solche heimlichen Ermittlungen Einfallstore für kognitive Verzerrungen sein können, insbesondere für Bestätigungsfehler (confirmation bias), unbewusste Beeinflussung durch „Beifang“ und Vorfestlegungen (judicial entrenchment).21 Hinzukommen die besonderen Schwierigkeiten bei der Verwendung von populären Suchmaschinen, bei denen etwa die algorithmische Sortierung der Suchergebnisse zum sog. Search Engine Bias führen kann.22 Der vom BGH geforderte nachträgliche Hinweis an die Parteien (nur) auf die zur Verwertung vorgesehenen Rechercheergebnisse schützt vor alledem nicht.23
Vor diesem Hintergrund ist die Vorschrift des § 291 ZPO im Einklang mit ihrem Wortlaut, ihrer Entstehungsgeschichte, ihrer systematischen Stellung und ihrem Sinn und Zweck eng auszulegen.24 Als allgemeinkundig sind nur diejenigen Tatsachen anzusehen, die so allgemein wahrgenommen oder verbreitet werden, dass ein verständiger und lebenserfahrener Mensch sich ebenso davon überzeugt erklären kann wie das Gericht im Prozess aufgrund der Beweisaufnahme.25 Diese enge Definition reduziert die Bedeutung des § 291 ZPO richtigerweise erheblich, weil Tatsachen nur selten mit allen Einzelheiten, die für die Entscheidungsfindung erforderlich sind, allgemeinbekannt sind.26
Wie eingangs erwähnt, setzt sich der BGH bedauerlicherweise mit all diesen Problembereichen weder in der vorliegenden noch in einer früheren Entscheidung auseinander. Aufgrund des paradigmatischen Sachverhalts und der Beschränkung allein auf die Frage der Zulässigkeit richterlicher Internetrecherchen hätte der hiesige Beschluss dazu allen Anlass gegeben.
Diese Kritik bedeutet jedoch nicht, dass Zivilgerichte die Augen vor der Informationsfülle und den Erkenntnismöglichkeiten des Internets verschließen müssten. Im Gegenteil hält die ZPO mehrere prozessuale Möglichkeiten für Internetrecherchen des Gerichts bereit, die es unnötig machen, sich auf eine extensive Auslegung von § 291 ZPO zu stützen und die zugleich die vorgenannten Probleme weitestgehend ausräumen. Neben der Zustimmung der Parteien zum Freibeweisverfahren gemäß § 284 S. 2 ZPO und dem Aufruf einer amtlichen Internetseite gemäß § 273 Abs. 2 Nr. 2 ZPO27 kann die richterliche Internetrecherche insbesondere auf der Grundlage des § 144 ZPO erfolgen.28
Gemäß § 144 ZPO kann das Gericht auf Basis eines hinreichend substantiierten Tatsachenvortrags eine Beweisaufnahme von Amts wegen anordnen.29 Dies erlaubt auch die Inaugenscheinnahme einer oder mehrerer Internetseiten gemäß § 371 Abs. 1 ZPO.30 Dabei gelten die allgemeinen Beweisvorschriften der §§ 355 ff. ZPO, also insbesondere der Grundsatz der Parteiöffentlichkeit gemäß § 357 ZPO.31 Konkret darf die Internetrecherche also nicht „heimlich“ im Richterzimmer, sondern nur im Beisein der Parteien erfolgen.32
Das Vorgehen auf der Grundlage des § 144 ZPO hat mehrere Vorteile gegenüber einem „vereinfachten Beweisverfahren“ nach § 291 ZPO.33 Insbesondere dient die Vorschrift des § 144 ZPO bestimmungsgemäß der Informationsbeschaffung von Amts wegen und bietet insoweit ein sicheres rechtliches Fundament ohne Bedürfnis nach Lösungen praeter legem. Zudem werden der Beibringungsgrundsatz und der Grundsatz der Parteiöffentlichkeit gewahrt. Diese Vorteile überwiegen den Mehraufwand durch Beschränkung auf Internetrecherchen im Beisein der Parteien.34
Die vorliegende Entscheidung zeigt anschaulich die Chancen und Risiken richterlicher Internetrecherchen im Zivilprozess. Der Vortrag der Beklagten, eine Kenntnis von der Umschaltlogik habe bei der Audi AG nicht vorgelegen,35 erschien dem Berufungsgericht offenbar zweifelhaft. Es entschied sich daher für eine Internetrecherche zum Thema, die ein nicht näher bezeichnetes Konzern-Organigramm der VW AG und eine Pressemitteilung der Audi AG zutage förderte, welche den Beklagtenvortrag scheinbar widerlegten.36 Hätte das Gericht den Parteien einen Hinweis auf diese Rechercheergebnisse erteilt, wäre die Vorgehensweise aus Sicht des BGH auf der Grundlage des § 291 ZPO zulässig gewesen.
Richtigerweise trägt die Vorschrift ein solches „vereinfachtes Beweisverfahren“ im Internet nach Wortlaut, Entstehungsgeschichte, systematischer Stellung und Sinn und Zweck nicht. Zudem bleibt bei der vom BGH befürworteten Vorgehensweise völlig unklar, welche Informationen das Gericht im Zuge seiner Recherche wahrgenommen hat, ohne diese ausdrücklich in der Entscheidung zu verwerten. Insoweit kommen insbesondere die Bedenken im Zusammenhang mit dem bestehenden Verbot des Erwerbs und der Verwertung privaten Wissens zum Tragen, die im Einklang mit den Erkenntnissen zu kognitiven Verzerrungen bei eigenständigen Ermittlungen stehen.
Um die Erkenntnismöglichkeiten des Internets gleichwohl für den Zivilprozess fruchtbar zu machen, sollten diese in die bestehenden Strukturen des Beweisrechts eingegliedert und damit richterliche Internetrecherchen auf ein sicheres rechtliches Fundament gestellt werden. Die Vorschrift des § 144 ZPO ist hierfür gut geeignet, weil sie Informationsbeschaffung von Amts wegen ermöglicht, ohne die zivilprozessualen Grundsätze zu vernachlässigen. Damit würde gleichzeitig das bestehende Dickicht an praeter legem entwickelten Lösungen zu § 291 ZPO überflüssig. Zugleich würde die Vorschrift auf ihre ursprüngliche Bedeutung zurückgestutzt.