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Zitiervorschlag: Behme, LRZ 2022, Rn. 114, [●], www.lrz.legal/2022Rn114.
Permanente Kurz-URL: LRZ.legal/2022Rn114
Kann der Crowdinvestor bzw. der Anleger, der sich an einem Crowdfunding oder an einem ICO beteiligt, von dem Vertrag mit dem durchführenden Unternehmen jederzeit zurücktreten? Steht ihm ein verbraucherschützendes Widerrufsrecht zu? Und wie kann das Spannungsverhältnis solcher Rechtsbehelfe zu dem Bedürfnis des Unternehmens nach Planungs- und Finanzierungssicherheit aufgelöst werden?
Mit den Schlagworten „Crowdfunding“ und „Initial Coin Offering (ICO)“ werden jeweils eine Reihe ganz unterschiedlicher Formen der Kapitalbeschaffung durch Unternehmen, regelmäßig durch Start-ups, bezeichnet. Die bisherige wissenschaftliche Diskussion kreist dabei vor allem um die aufsichtsrechtliche Beurteilung, speziell um die Frage, ob eine Erlaubnis- oder eine Prospektpflicht besteht;1 den Schutzinstrumenten des Crowdinvestors bzw. Anlegers nach allgemeinem Zivilrecht wird zumeist nur wenig Beachtung geschenkt.2 Der nachfolgende Beitrag soll einen Überblick über diese gleichwohl höchst praxisrelevante Problematik vermitteln und der Frage nachgehen, ob und unter welchen Voraussetzungen der Crowdinvestor bzw. Anleger jeweils von dem Vertrag zurücktreten kann, den er mit dem jeweiligen Unternehmen bzw. Emittenten im Rahmen des Crowdfundings bzw. ICOs geschlossen hat.
Im Vordergrund sollen dabei die Formen von Crowdfundings bzw. ICOs stehen, bei denen der Crowdinvestor bzw. Anleger eine nicht-finanzielle Gegenleistung erhalten soll. Dies ist der Fall beim sog. Reward-based bzw. pre-purchase Crowdfunding und beim Erwerb von Utility Token im Rahmen von ICOs, die ihren Inhabern den Zugang zu einem Produkt, einer Dienstleistung oder einer Plattform des emittierenden Unternehmens einräumen.3
Das Crowdfunding verdankt seine Bezeichnung der Finanzierung („funding“) eines Projekts, häufig der Entwicklung eines innovativen Produkts, durch eine Vielzahl von Geldgebern („crowd“). Die einzelnen Geldgeber investieren zumeist nur geringe Beträge. Teilweise erhalten sie dafür keine oder lediglich eine symbolische Gegenleistung; in diesem Fall handelt es sich aus dem Blickwinkel des Zivilrechts um eine Schenkung („donation-based crowdfunding“).4 Teilweise erhalten sie aber auch einen werthaltigen Leistungsanspruch gegen das Unternehmen („reward-based crowdfunding“); dieser besteht typischerweise darin, dass sie das crowdfinanzierte Produkt erhalten, wenn dessen Entwicklung geglückt ist – häufig als erste Abnehmer oder zu einem rabattierten Preis („pre-purchase crowdfunding“).5 Zivilrechtlich ist dann von einem Kaufvertrag bzw. – soweit es sich um ein noch herzustellendes Produkt handelt – von einem Werklieferungsvertrag i.S.d. § 650 Abs. 1 BGB auszugehen, auf den die Vorschriften über den Kauf Anwendung finden.6
Vom Crowdfunding zu unterscheiden und hier nicht weiter zu behandeln ist das sog. Crowdinvesting, bei dem sich die Geldgeber eine finanzielle Rendite erhoffen, sei es in Form einer Beteiligung an künftigen Erträgen und Wertsteigerungen des Unternehmens („equity-based Crowdfunding“) oder in Form einer (dem Risiko entsprechend zumeist überdurchschnittlich hohen) Verzinsung des investierten Kapitals („lending-based Crowdfunding“).7
Die Festlegung einheitlicher Anforderungen an die Erbringung von sog. „Schwarmfinanzierungsdienstleistungen“, an die Organisation, die Zulassung und die Beaufsichtigung von Schwarmfinanzierungsdienstleistern, an den Betrieb von Plattformen sowie an Transparenz und Marketingmitteilungen in Bezug auf die Erbringung von Schwarmfinanzierungsdienstleistungen ist Gegenstand der europäischen „Schwarmfinanzierungsverordnung“.8 Aufgrund der Definition des Begriffs der „Schwarmfinanzierungsdienstleistung“ in Art. 2. Abs. 1 lit. a dieser Verordnung, die ausschließlich Formen des Crowdinvestings umfasst, ist die Verordnung für das in diesem Beitrag behandelte Reward-based bzw. pre-purchase Crowdfunding nicht relevant. Auch das VermAnlG enthält keine für diese Formen des Crowdfundings einschlägigen Regelungen.
ICOs lassen sich hinsichtlich der Art der digital generierten Token unterscheiden, die der Anleger im Rahmen des ICO erwerben kann. Im Schrifttum9 und in der Praxis der Kapitalmarktaufsicht10 hat sich eine Kategorisierung der Token in Investment-, Utility- und Currency-Token durchgesetzt. Investment-Token räumen ihren Inhabern (Dividenden-)Rechte hinsichtlich der zukünftigen Gewinne des Emittenten ein und gewährend mitunter auch gesellschafterähnliche Mitwirkungs- und Teilhaberechte, wie z.B. Stimmrechte bei (wichtigen) Entscheidungen. Utility-Token gewähren demgegenüber keine Zahlungsansprüche, sondern räumen ihren Inhabern den Zugang zu einem Produkt, einer Dienstleistung oder einer Plattform des Unternehmens ein, wobei die Token häufig zur Bezahlung der (zu einem späteren Zeitpunkt) in Anspruch genommenen Leistungen genutzt werden können. Häufig soll das Produkt, die Dienstleistung oder die Plattform mithilfe der Einnahmen aus dem ICO entwickelt werden. Die Anleger tragen mit dem Erwerb des Utility Token dann ebenfalls ein unternehmerisches Risiko; der Nutzen des Tokens ist somit hybrider Natur und steht zwischen Güterkonsum und Investment.11 Currency Token schließlich begründen keinerlei Ansprüche gegen einen Emittenten, sondern haben vor allem eine Tauschmittel- und Wertaufbewahrungsfunktion.
Crowdfunding und ICO sind insoweit funktional miteinander vergleich, als es sich jeweils um Formen der Unternehmensfinanzierung, überwiegend von Start-ups, durch eine „Crowd“ bzw. „Community“12 handelt. Der wesentliche Unterschied besteht in der technischen Abwicklung von ICOs über die Blockchain und der „Tokenisierung“ der erworbenen Ansprüche des Anlegers gegen den Emittenten. Zutreffend wurden ICOs daher als eine Art des Crowdfundings charakterisiert.13 Dabei besteht eine funktionale Nähe von Investment-Token zum Crowdinvesting und von Utility-Token zum Reward-based bzw. pre-purchase Crowdfunding.
Allerdings hat die Tokensierung der Ansprüche des Anlegers gegen das emittierende Unternehmen im Rahmen eines ICO beträchtliche zivilrechtliche Konsequenzen. Vermittelt ein Utility Token seinem Inhaber den einmaligen (oder zeitlich befristeten) Zugang zu einem Produkt, einer Dienstleistung oder einer Plattform des Emittenten, ist zur Geltendmachung des betreffenden Anspruchs die „Einlösung“ des Tokens erforderlich; soll der Anspruch auf einen Dritten übertragen werden, erfolgt dies anders als beim Crowdfunding nicht durch schlichte Abtretung des kaufrechtlichen Erfüllungsanspruchs, sondern durch Übertragung des Tokens gem. §§ 413, 398 Satz 1 BGB.14 Der Token fungiert mithin als eine Art digitaler, über die Blockchain generierter Konsumentengutschein;15 der bei Ausgabe des Tokens zwischen dem Emittenten und dem Anleger zustande kommende Ausgabevertrag ist ein Kaufvertrag, und zwar unabhängig davon, welche spätere Leistung der Token verkörpert (Zugang zu einem Produkt, einer Dienstleistung oder einer Plattform).
Bei dogmatisch präziser Betrachtung beinhaltet der erworbene Token nicht den Anspruch auf Zugang zu der jeweiligen Leistung des Emittenten, sondern ein vorvertragliches Recht des Anlegers auf Abschluss eines späteren Hauptvertrags über den Erwerb dieser Leistung, den er seinerseits durch die Einlösung des Tokens erfüllen kann.16 Ist – wie häufig – im Zeitpunkt des ICO das hierdurch finanzierte Produkt noch nicht fertig entwickelt, ändert dies an der zivilrechtlichen Einordnung nichts. Scheitert die Entwicklung, realisiert sich damit das unternehmerische Risiko, das der Anleger mit dem Erwerb des Tokens eingegangen ist (insoweit besteht kein Unterschied zum pre-purchase Crowdfunding). Die Konsequenzen ergeben sich aus dem allgemeinen Leistungsstörungsrecht: Löst der Anleger den Token ein, bleibt der Emittent zum Abschluss des Hauptvertrages verpflichtet. Der Umstand, dass er den Hauptvertrag nicht erfüllen können wird, ändert nichts daran, dass ihm der Abschluss des Hauptvertrages durchaus möglich ist. Die anfängliche Unmöglichkeit seiner Erfüllung steht seiner Wirksamkeit gem. § 311a Abs. 1 BGB nicht entgegen. Der aus dem Hauptvertrag resultierende Leistungsanspruch des Anlegers gegen den Emittenten ist allerdings gem. § 275 Abs. 1 BGB ausgeschlossen.17
Ein Rücktrittsrecht des Crowdinvestors bzw. Anlegers kann sich im Falle der Nichtleistung bzw. der nicht vertragsgemäßen Leistung aus § 323 Abs. 1 BGB ergeben. Scheitert die Entwicklung des im Wege des Crowdfundings bzw. des ICOs finanzierten Produkts, kann ein Rücktrittsrecht aus § 326 Abs. 5 BGB folgen.
Ein Rücktrittsrecht des Crowdinvestors gem. § 323 Abs. 1 BGB kommt in Betracht, wenn das Unternehmen die geschuldete Leistung nicht oder nicht vertragsgemäß erbringt.
Ein Fall der Nichtleistung liegt vor, wenn und solange das versprochene Produkt nicht geliefert wird (ohne dass bereits absehbar ist, dass das finanzierte Projekt gescheitert und die Erbringung der Leistung somit unmöglich ist). Voraussetzung für den Rücktritt nach § 323 Abs. 1 BGB ist ein fälliger Leistungsanspruch des Crowdinvestors.
Enthält der zugrunde liegende Kaufvertrag keine Regelung der Leistungszeit, findet § 271 Abs. 1 BGB Anwendung, wonach der Gläubiger die Leistung sofort verlangen kann, sofern eine Zeit für die Leistung weder bestimmt noch aus den Umständen zu entnehmen ist. Aus den Umständen des Crowdfundings, das gerade der Finanzierung der typischerweise sich über einen längeren Zeitraum erstreckenden Entwicklung eines Produktes dient, kann allerdings entnommen werden, dass der Crowdinvestor keineswegs sofort oder bereits nach einer gewissen, letztlich im eigenen Ermessen liegenden Zeit die Leistung verlangen kann, sondern vielmehr grundsätzlich erst dann, wenn die Entwicklung erfolgreich abgeschlossen wurde. Dies entspricht wertungsmäßig der Rechtsprechung des BGH, wonach für die Erbringung einer Leistung, die einen längeren Entwicklungs- oder Herstellungsprozess voraussetzt, die notwendige Zeit in Rechnung zu stellen ist.18 Andernfalls sähe sich das Unternehmen jederzeit der Gefahr ausgesetzt, dass der Crowdinvestor nach Ablauf einer kurz bemessenen Frist19 vom Vertrag zurücktritt und den gezahlten Geldbetrag zurück verlangt; die im Rahmen des Crowdfundings eingesammelten Beträge wären daher mit einem permanenten Verlustrisiko behaftet.
Allerdings wird man auch bei einem im Wege des Crowdfundings finanzierten Projekt verlangen müssen, dass der Unternehmer mit der Entwicklung des versprochenen Produkts im Zweifel „alsbald nach Vertragsschluss“ beginnt und sie in „angemessener“ Zeit „zügig“ zu Ende zu führen hat.20 Läuft die angemessene Entwicklungszeit ab, tritt Fälligkeit ein und die Crowdinvestoren können vom Vertrag zurücktreten; das Prozessrisiko bei der gerichtlichen Durchsetzung des Rückforderungsanspruchs ist in Anbetracht der wertausfüllungsbedürftigen Kriterien, nach denen das Gericht die Fälligkeit zu bestimmen hat, jedoch hoch.
Stellen die Vertragsbedingungen ausdrücklich klar, dass eine Lieferung des zu entwickelnden Produkts erst nach erfolgreichem Abschluss der Entwicklung erfolgt, verstößt eine solche Regelung nicht mangels hinreichender Bestimmtheit der Leistungsfrist gegen das Klauselverbot des § 308 Nr. 1 BGB. Vielmehr führt eine solche Klausel zu demselben Ergebnis wie die Anwendung der gesetzlichen Regelung in § 271 Abs. 1 BGB, die bei einer Invalidierung der Klausel gem. § 306 Abs. 2 BGB wiederum zur Anwendung gelangen würde. Es handelt sich daher um eine deklaratorische Klausel, die gem. § 307 Abs. 3 Satz 1 BGB nicht der AGB-rechtlichen Inhaltskontrolle unterliegt.
Eine nicht vertragsgemäße Leistung kann insbesondere vorliegen, wenn die Eigenschaften des fertigen Produkts von den Eigenschaften abweichen, die den Crowdinvestoren im Rahmen der Vermarktung des Crowdfundings versprochen worden sind. Welche Eigenschaften tatsächlich zugesichert wurden, ist im Einzelfall zu prüfen. Ein Produkt, das nicht über die vertraglich vereinbarten Eigenschaften verfügt, kann der Crowdinvestor analog § 266 BGB zurückweisen21 und nach Setzung einer angemessenen Frist gem. § 323 Abs. 1 BGB vom Vertrag zurücktreten. Wurde das Produkt bereits übergeben und hat somit ein Gefahrübergang stattgefunden, richten sich die Rechte des Crowdinvestors nach den §§ 437, 434 BGB; ein Rücktritt kommt somit nur dann in Betracht, wenn das gelieferte Produkt einen Sachmangel i.S.d. § 434 BGB aufweist.
Scheitert die Entwicklung des crowdfinanzierten Produkts, wird das Unternehmen gem. § 275 Abs. 1 BGB von seiner Leistungspflicht frei; die bereits erbrachte und gem. § 326 Abs. 1 BGB nicht mehr geschuldete Gegenleistung kann der Crowdinvestor gem. § 326 Abs. 4 BGB i.V.m. § 346 ff. BGB zurückverlangen, ohne dass es dafür eines Rücktritts bedarf. Ein Rücktritt gem. § 326 Abs. 5 BGB ist freilich ebenfalls möglich und führt zu einer vollständigen Vertragsstornierung sowie Rückabwicklung nach Maßgabe der §§ 346 ff. BGB.22
Zwar ist die Regelung des § 326 BGB grundsätzlich dispositiv.23 Eine Klausel in den Vertragsbedingungen, die dem Unternehmen die von den Crowdinvestoren erbrachte Gegenleistung (d.h. die gezahlten Gelder) belässt, obwohl es selbst keinerlei Leistung erbringt, würde aber dem Grundgedanken der gesetzlichen Regelung widersprechen und wäre daher gem. § 307 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. Abs. 1 BGB unwirksam.24
Für das finanzierende Unternehmen besteht während der Entwicklungsphase kein Risiko, die im Rahmen des Crowdfundings eingeworbenen Gelder infolge von Rücktritten „ungeduldiger“ Crowdinvestoren zurückzahlen zu müssen, da diese mangels Fälligkeit ihrer Leistungsansprüche nicht vom Vertrag zurücktreten können. Nur wenn die Entwicklung eine völlig unangemessene Zeit in Anspruch nimmt oder endgültig scheitert, steht den Crowdinvestoren ein Rücktrittsrecht gem. § 323 Abs. 1 BGB bzw. § 326 Abs. 5 BGB zu. Häufig wird das Scheitern der Entwicklung zugleich das Ende des Unternehmens bedeuten. Dies wird aufgrund der zahlreichen anderen Verpflichtungen, die typischerweise in der Anlaufphase eines Unternehmens entstehen, selbst dann oftmals der Fall sein, wenn viele Crowdinvestoren sich ihres gesetzlichen Rücktrittsrechts nicht bewusst sein oder es aus anderen Gründen nicht ausüben würden. Folglich werden die Rückzahlungsansprüche regelmäßig Insolvenzforderungen i.S.d. § 38 InsO sein und nur zu einer geringen Quote befriedigt werden.
Beim ICO stellt sich die Rechtslage aufgrund der „Zwischenschaltung“ des Tokens als komplizierter dar. Ein Rücktritt vom Ausgabevertrag (Kaufvertrag über den Token) wird nur dann in Betracht kommen, wenn Leistungsstörungen hinsichtlich dieses Ausgabevertrags vorliegen. Dies wird nur selten der Fall sein, da der Anleger den erworbenen Token im Rahmen des ICOs üblicherweise unmittelbar nach Bezahlung erhält. Dass sich dieser Token als „mangelhaft“ i.S.d. § 434 BGB erweist und auf diese Weise Gewährleistungsrechte des Anlegers entstehen, erscheint kaum denkbar.
Eine gewisse praktische Bedeutung können Rücktrittsrechte des Anlegers daher nur haben, wenn der Anleger im Rahmen des ICO nicht unmittelbar den eigentlichen (übertragbaren) Token erhält, sondern lediglich einen Anspruch auf Zuteilung des Tokens nach Abschluss des ICO, der in seinem Wallet dargestellt wird. Solche Gestaltungen werden von Emittenten bisweilen gewählt, um einen Sekundärhandel mit Token zu verhindern, solange der ICO noch läuft. Auch hier gilt, dass der Anleger den übertragbaren Token gem. § 271 Abs. 1 BGB (nur) dann sofort verlangen kann, wenn eine Zeit für die Leistung weder bestimmt noch aus den Umständen zu entnehmen ist. Die Umstände werden aber regelmäßig ergeben, dass der Anspruch auf Zuteilung des übertragbaren Tokens erst nach Abschluss des ICO fällig wird; regelmäßig wird dies auch in den Anlagebedingungen bzw. im Whitepaper so festgelegt sein. In diesem Fall kommt ein Rücktritt nur dann in Betracht, wenn sich entweder der ICO ganz außergewöhnlich lange hinzieht25 und dies für den Anleger nicht vorhersehbar war (dann § 323 Abs. 1 BGB) oder wenn ausnahmsweise die Generierung des finalen Tokens unmöglich ist (dann § 326 Abs. 5 BGB), etwa aus technischen Gründen.26
Wesentlich häufiger als hinsichtlich des Ausgabevertrags werden Leistungsstörungen hinsichtlich des späteren Hauptvertrags auftreten, nämlich wenn und solange sich die Entwicklung des durch den ICO finanzierten Produkts bzw. der Dienstleistung oder Plattform verzögert oder endgültig scheitert. Der dann nach § 323 Abs. 1 BGB bzw. § 326 Abs. 5 BGB grundsätzlich mögliche Rücktritt vom Hauptvertrag nutzt dem Anleger aber wenig, da der Rücktritt vom Hauptvertrag nur diesen, nicht aber zugleich den Ausgabevertrag in ein Rückgewährschuldverhältnis nach §§ 346 ff. BGB umwandelt. Den in Erfüllung des Ausgabevertrags gezahlten Geldbetrag kann der Anleger auf diese Weise somit nicht zurückverlangen.
Für gewöhnliche Konsumentengutscheine wird eine mögliche Lösung darin erblickt, dass dem Erwerber bei Leistungsstörungen hinsichtlich des Hauptvertrags ein Rücktrittsrecht gem. § 313 Abs. 3 BGB zustehen soll. Der Gutscheinerwerber kaufe den Gutschein nur in der Erwartung, auch eine brauchbare Gegenleistung für seine Zahlung zu erhalten; die in der Enttäuschung dieser Erwartung liegende Störung der Geschäftsgrundlage führe mangels Möglichkeit der Anpassung des Ausgabevertrags letztlich zu einer Rücktrittsmöglichkeit des Gutscheinerwerbers auch vom Ausgabevertrag.27 Diese Lösung wird gestützt auf Rechtsprechung des BGH, die bei enger Zweckverbindung verschiedener Geschäfte – hier: Ausgabevertrag und Hauptvertrag – eine Geschäftsgrundlagenstörung des einen Vertrags bejaht hat, wenn der andere Vertrag durch einen wirksamen Rücktritt beseitigt wurde.28
Gegen eine Übertragung dieser grundsätzlich sachgerechten Lösung auf Verträge über die Ausgabe von Utility Token könnte jedoch sprechen, dass die Prämisse, dass der Anleger den Token nur in der Erwartung erwirbt, eine brauchbare Gegenleistung zu erhalten, bei einem ICO nur mit gewissen Einschränkungen zutrifft. Immerhin ist sich der Anleger bei Erwerb eines Utility Tokens des Umstandes bewusst, dass er die Entwicklung eines Produkts, einer Dienstleistung oder einer Plattform finanziert und damit das Risiko des Scheiterns dieser Entwicklung mitträgt. Dieses spekulative Element wird häufig deutlich stärker ausgeprägt sein als beim pre-purchase Crowdfunding, da die Anleger im Rahmen eines ICO typischerweise auf Wertsteigerungen des Tokens und eine spätere gewinnbringende Weiterveräußerung auf dem Sekundärmarkt hoffen. Dieser Unterschied zwischen Utility Token und gewöhnlichen Konsumentengutscheinen relativiert sich allerdings, wenn man bedenkt, dass auch bei letzteren stets eine gewisse Wahrscheinlichkeit von Leistungsstörungen hinsichtlich des Hauptvertrags besteht. Zumindest im Hinblick auf bloße Leistungsverzögerungen (Rücktritt nach § 323 Abs. 1 BGB) wird man – gerade in Zeiten weltweiter Krisen – womöglich nicht einmal annehmen können, dass diese bei ICOs häufiger auftreten als bei sonstigen Umsatzgeschäften. Erhöht ist allenfalls die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Unmöglichkeit (Rücktritt nach § 326 Abs. 5 BGB) infolge eines endgültigen Scheiterns der Entwicklung. Diese erhöhte Wahrscheinlichkeit ändert aber nichts daran, dass der Anleger zumindest die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Entwicklung als höher eingeschätzt hat als die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns. Das tendenziell stärker ausgeprägte spekulative Element beim ICO ändert daher am Ergebnis der von § 313 Abs. 1 BGB geforderten normativen Abwägung nichts.
Nach hier vertretener Auffassung besteht hinsichtlich möglicher Rücktrittsrechte ein Gleichlauf zwischen dem Erwerb eines Utility Tokens im Rahmen eines ICO und dem Erwerb eines noch nicht fertig entwickelten Produkts im Rahmen eines pre-purchase Crowdfundings. In dogmatischer Hinsicht besteht insoweit ein Unterschied, als die Leistungsstörungen, die beim Crowdfunding unmittelbar ein Rücktrittsrecht nach § 323 Abs. 1 BGB bzw. § 326 Abs. 5 BGB auslösen, beim ICO lediglich in Bezug auf den Hauptvertrag bestehen und für einen Rücktritt vom Ausgabevertrag, der dem Anleger einen Anspruch auf Rückzahlung der investierten Gelder vermittelt, daher der rechtskonstruktive „Umweg“ über § 313 Abs. 3 BGB erforderlich ist. Scheitert die Entwicklung, realisiert sich auch im Falle des ICO das unternehmerische Risiko des Anlegers dadurch, dass regelmäßig über das Vermögen des Emittenten das Insolvenzverfahren eröffnet werden wird; bei dem Rückzahlungsanspruch wird es sich dann um eine Insolvenzforderung i.S.d. § 38 InsO handeln, die nur zu einer geringen Quote befriedigt werden wird.
Neben dem Rücktrittsrecht, das immerhin eine Leistungsstörung bzw. einen Wegfall der Geschäftsgrundlage voraussetzt und damit an recht hohe Hürden geknüpft ist, kann sich der Crowdinvestor bzw. Anleger durch Ausübung eines Widerrufsrechts gem. § 312g Abs. 1 i.V.m. § 312c Abs. 1 BGB vom Vertrag lösen.
Beim Crowdfunding wird der Vertrag zwischen dem Crowdinvestor und dem Unternehmen immer ausschließlich über das Internet und damit unter Verwendung von Fernkommunikationsmitteln geschlossen; es handelt sich somit um einen Fernabsatzvertrag i.S.d. § 312c Abs. 1 BGB, sodass dem Käufer gem. § 312g Abs. 1 BGB grundsätzlich ein Widerrufsrecht gem. § 355 BGB zusteht. Zu Recht wird im Schrifttum auf die Problematik hingewiesen, dass bei einem Verbrauchsgüterkauf die Frist von 14 Tagen gemäß § 356 Abs. 2 Nr. 1 lit. a) BGB nicht vor Lieferung der Ware beginnt, der Widerruf aber bereits vor Lieferung der Ware möglich ist.29 Dies hat zur Folge, dass das Unternehmen während der gesamten Entwicklungsdauer dem Risiko anlassloser Widerrufe von Crowdinvestoren ausgesetzt ist, was ihm jede Planungssicherheit nimmt und dem Finanzierungsgedanken des Crowdfundings diametral entgegensteht.30
Da ein Ausschluss des Widerrufsrechts durch ausdrückliche Vereinbarung oder im Wege ergänzender Vertragsauslegung an dessen zwingendem Charakter scheitert (§ 312k Abs. 1 Satz 1 BGB) und ein Ausschluss des Widerrufsrechts nach § 242 BGB nur unter sehr engen Voraussetzungen (arglistiges Verhalten des Verbrauchers, vorsätzliche sittenwidrige Schädigung i.S.d. § 826 BGB, Schikane i.S.d. § 226 BGB) ausnahmsweise denkbar ist,31 kann eine mögliche Lösung nur von der Erkenntnis ausgehen, dass der Gesetzgeber das Phänomen des Crowdfundings bei Normierung des Widerrufsrechts nicht gesehen und nicht berücksichtigt hat. Im Schrifttum wird insoweit vorgeschlagen, den Begriff des „Kaufvertrags“ im Sinne der Verbraucherrechterichtlinie teleologisch dahingehend zur reduzieren, dass er sog. „Projektfinanzierungskäufe“ und damit das pre-purchase Crowdfunding nicht umfasst.32 Auf diese Weise sollen Art. 9 Abs. 2 lit. b der Verbraucherrechterichtlinie, wonach die Widerrufsfrist bei Kaufverträgen erst 14 Tage ab dem Tag endet, an dem der Verbraucher in den physischen Besitz der Waren gelangt ist, und konsequenterweise dann auch § 356 Abs. 2 Nr. 1 lit a BGB, wonach die Widerrufsfrist von 14 Tagen erst mit Erhalt der Ware beginnt (wenngleich ein Widerruf bereits vorher möglich ist), auf das pre-purchase Crowdfunding nicht zur Anwendung gelangen.
Die Konsequenz wäre, dass die Widerrufsfrist wie bei jedem anderen Fernabsatzvertrag mit Vertragsschluss beginnen und nach 14 Tagen enden würde (§ 355 Abs. 2 BGB); das Risiko eines „permanenten“ Widerrufsrechts wäre auf elegante Weise aus der Welt geschafft. Es bleibt abzuwarten, inwieweit Gerichte diesem Lösungsvorschlag folgen werden. De lege ferenda wäre im Interesse der Rechtsklarheit jedenfalls wünschenswert, dass der (europäische) Gesetzgeber das Widerrufsrecht beim pre-purchase Crowdfunding regelt, idealerweise durch eine Erweiterung des Katalogs der Ausnahmetatbestände in Art. 16 Verbraucherrechterichtlinie bzw. § 312g Abs. 2 BGB, bei denen das Widerrufsrecht nicht besteht.
Beim Erwerb eines Utility Tokens durch einen Verbraucher von einem Emittenten bereitet das Widerrufsrecht hinsichtlich des Ausgabevertrags keine besonderen Probleme: Der Ausgabevertrag ist ein Fernabsatzvertrag i.S.d. § 312c Abs. 1 BGB, sodass ein Widerrufsrecht gem. § 312g Abs. 1 BGB besteht. Es handelt sich um einen Kaufvertrag und insbesondere nicht um einen Vertrag über eine Finanzdienstleistung, da der Erwerb des Tokens in seinem Kern nicht durch Spekulation, sondern durch Konsum geprägt ist, sodass der Ausnahmetatbestand des § 312g Abs. 2 Nr. 8 BGB nicht greift.33 Der Beginn und das Ende der Widerrufsfrist richtet sich nach § 355 Abs. 2 BGB; sie beginnt also mit Vertragsschluss und endet nach 14 Tagen. § 356 Abs. 2 Nr. 1 lit. a BGB, wonach die Widerrufsfrist erst mit Erhalt des Tokens beginnen würde, findet keine Anwendung, da der Token keine „bewegliche Sache“ darstellt und es sich bei dem Ausgabevertrag somit nicht um einen Verbrauchsgüterkauf handelt.34 Eine vergleichbare Problematik wie beim Crowdfunding, wo es zu einem permanenten Widerrufsrecht kommen kann, weil der Crowdinvestor zunächst nur einen Anspruch erwirbt, aber keine Lieferung erhält, besteht beim ICO aufgrund der Tokenisierung des Anspruchs und der Leistung des Tokens in Erfüllung des Ausgabevertrags nicht.
Löst der Anleger den Utility Token ein und widerruft anschließend den dadurch geschlossenen Hauptvertrag, bei dem es sich ebenfalls um einen Fernabsatzvertrag i.S.d. § 312c Abs. 1 BGB handelt, stellt sich dasselbe Problem wie bereits beim Rücktritt vom Hauptvertrag: Der Widerruf wandelt nur den Hauptvertrag in ein Rückgewährschuldverhältnis nach § 357 BGB um; den in Erfüllung des Ausgabevertrags gezahlten Geldbetrag erhält der Anleger auf diese Weise nicht zurück (sondern lediglich den Token). Auch hier wird man in Übertragung der obigen, für den Rücktritt entwickelten Lösung35 aber die Wirksamkeit des Hauptvertrags bzw. die Nichtausübung des Widerrufs als Geschäftsgrundlage des Ausgabevertrags ansehen können, sodass der Widerruf des Hauptvertrags dem Anleger die Möglichkeit eröffnet, von dem Ausgabevertrag gem. § 313 Abs. 3, Abs. 1 BGB zurückzutreten.36
Bei der Finanzierung der Entwicklung von Produkten, Dienstleistungen oder Plattformen durch ein Crowdfunding oder einen ICO stehen Interessen des Anleger- und Verbraucherschutzes in einem Spannungsverhältnis zu dem Bedürfnis des crowdfinanzierenden Unternehmens bzw. des Emittenten nach Planungssicherheit. Diesem Bedürfnis trägt das Zivilrecht dadurch Rechnung, dass während der Entwicklungszeit ein Rücktritt des Crowdinvestors bzw. des Anlegers, der zu einer Rückerstattung der vereinnahmten Gelder führt, regelmäßig nicht in Betracht kommt. Ein Rücktritt ist jedoch möglich, wenn die Entwicklung endgültig gescheitert ist; der Rückzahlungsanspruch wird dann regelmäßig eine Insolvenzforderung sein.
Dieselbe Lösung wie für das Rücktritts- erscheint auch für das Widerrufsrecht des Crowdinvestors sachgerecht. Hier ist sicherzustellen, dass Verbraucher nicht bis zur Lieferung der versprochenen Leistung permanent vom Vertrag zurücktreten können, wodurch die Finanzierungsfunktion des Crowdfundings gefährdet würde. De lege lata kann dieses Ergebnis nur durch eine teleologische Reduktion des Begriffs „Kaufvertrag“ in Art. 9 Abs. 2 lit. b der Verbraucherrechterichtlinie bzw. § 356 Abs. 2 Nr. 1 lit a BGB erreicht werden. De lege ferenda sollte der Gesetzgeber für das Crowdfunding aus Gründen der Rechtssicherheit eine Ausnahme vom generellen Widerrufsrecht des Verbrauchers bei Fernabsatzverträgen vorsehen.