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Zitiervorschlag: Schweiger, LRZ 2022, Rn. 439, [●], www.lrz.legal/2022Rn439.
Permanente Kurz-URL: LRZ.legal/2022Rn439
Mit dem Scheitern des Verbandssanktionengesetzes (VerSanG) im letzten Jahr stellt sich die Frage nach der Zukunft des Rechts der Verbandssanktionierung in Deutschland neu. Ausgehend von der aktuellen Rechtslage untersucht der Beitrag das Potential bisheriger Reformvorschläge und erarbeitet mit Blick auf die Aussagen im neuen Koalitionsvertrag denkbare Eckpunkte eines künftigen Verbandssanktionenrechts.
Der folgende Beitrag unternimmt eine kleine juristische Rundreise durch die vergangenen Jahre staatlicher Bemühungen zur Reformierung der Verbandssanktionierung in Deutschland, die mit dem Scheitern des groß angekündigten Verbandssanktionengesetzes im letzten Jahr abermals auf der letzten Etappe ein jähes Ende gefunden hat. Eine neue Regierung verspricht nun frischen Wind in den Segeln. Darüber, wohin die Fahrt genau führen soll, scheint man sich allerdings noch nicht ganz einig zu sein; die Segelanweisungen des aktuellen Koalitionsvertrages fallen bestenfalls nebulös aus. Nichtsdestotrotz, oder vielleicht gerade deshalb, soll ein eigener Blick auf den Rechtsatlas geworfen werden, um mögliche Zielrouten erarbeiten zu können. Den Ausgangspunkt hierfür bildet die aktuelle Rechtslage, die seit Jahren mannigfaltiger Kritik ausgesetzt ist und die bereits eine Vielzahl an entsprechenden Reformvorschlägen, sowohl aus der Praxis als auch aus der Wissenschaft, auf den Plan gerufen hat. Das derzeitige Umsetzungspotential dieser Vorschläge hängt jedoch entscheidend von den wenig ergiebigen Aussagen des neuen Koalitionsvertrages ab, was unweigerlich zu der Frage drängt: In welcher Gestalt könnte sich ein deutsches Verbandssanktionenrecht in naher Zukunft realistischerweise präsentieren?
Stellen Sie sich einmal vor, Sie laufen einen Marathon. Sie haben Monate, ja sogar Jahre auf diesen Moment trainiert, und, auch wenn Sie auf der langen Strecke hier und da mit ein paar Unwägbarkeiten zu kämpfen hatten, liegen Sie mittlerweile gut in der Zeit und haben das erlösende Zielband bereits vor Augen. Auf den letzten Metern überkommt Sie jedoch urplötzlich eine ermattende Erschöpfung, Sie verlieren den Atem und Ihren Rhythmus, die Muskulatur verkrampft. Sie können nicht anders, Sie müssen abbrechen, der Lauf ins Finish ist – obwohl zum Greifen nah – schlichtweg nicht möglich.
So oder ähnlich muss sich die letzte Bundesregierung bei ihrem – am Ende missglückten – Vorhaben gefühlt haben, mit dem sogenannten Verbandssanktionengesetz (kurz: VerSanG1) endlich2 eine Art Unternehmensstrafrecht3 in Deutschland einzuführen. Als Teil der selbst verordneten Rechtsstaatsoffensive wurde das geplante Sanktionsrecht für Verbände im Koalitionsvertrag groß angekündigt,4 dem bereits im Jahr 2019 durchgesickerten Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz5 folgte im Sommer 2020 dann auch zügig der Gesetzentwurf der Bundesregierung.6 Trotz profunder Kritik nicht nur aus den Reihen der Anwaltschaft und Praxis,7 sondern auch aus der Länderkammer des Parlamentes – insbesondere die auf eine (Gesamt-)Ablehnung des Gesetzentwurfs abzielenden Empfehlungen der Rechts- und Wirtschaftsausschüsse sorgten für Aufsehen8 –, war nicht damit zu rechnen, dass das als sicher erachtete VerSanG der Diskontinuität anheimfallen würde.9 Ob letztlich eine Uneinigkeit zwischen den Regierungsparteien10 oder ein wahlkampfbedingtes Absehen des Vorhabens zugunsten von in der Coronapandemie gepeinigten Unternehme(r)n11 die Ursache war, wird nicht mit letzter Sicherheit aufzuklären sein, ist am Ende aber auch völlig unerheblich.
Fakt ist, dass erneut eine Regierung an dem Projekt Verbandssanktionierung gescheitert ist. Dabei wird Deutschland mittlerweile schon seit Jahren öffentlich von internationaler Seite aufgefordert, in diesem Bereich endlich tätig zu werden. Insbesondere die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (kurz: OECD) ermahnt die Bundesrepublik regelmäßig, zur Umsetzung des Übereinkommens über die Bekämpfung der Bestechung wirksamere Regelungen zur strafrechtlichen Haftung von Verbänden zu erarbeiten und zu installieren.12 Im europäischen Vergleich verbleibt Deutschland sogar eines der wenigen Länder, das de lege lata weiterhin ohne ein originär strafrechtliches Modell zur Ahndung von Unternehmenskriminalität auskommt.
Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass die letzte Bundesregierung nicht die erste ihrer Zunft war, die sich das Vorhaben einer modernisierten Verbandshaftung auf strafrechtlicher Ebene zumindest auf die politischen Fahnen geschrieben hatte. Schon im Jahr 2013 enthielt der Koalitionsvertrag der damals 18. Legislaturperiode unter der Überschrift: „Kriminalität in allen gesellschaftlichen Bereichen wirksam bekämpfen“ folgende – wenngleich noch zaghafte – Aussage: „Mit Blick auf strafbares Verhalten im Unternehmensbereich bauen wir das Ordnungswidrigkeitenrecht aus. Wir brauchen konkrete und nachvollziehbare Zumessungsregeln für Unternehmensbußen. Wir prüfen ein Unternehmensstrafrecht für multinationale Konzerne.“13 Obwohl der damaligen Regierung mit dem kurz vor Abschluss des Koalitionsvertrages veröffentlichten NRW-Entwurf zur Errichtung eines Verbandsstrafgesetzbuches (VerbStrG)14 sogar eine rechtliche Blaupause für einen entsprechenden Gesetzentwurf auf Bundesebene zur Verfügung stand, wurde die Thematik – trotz zwischenzeitlichen Bekanntwerdens einer der größten deutschen Wirtschaftsskandale des 21. Jahrhunderts, der sog. Abgasaffäre – bekanntlich nicht weiterverfolgt. Dies hinderte jedoch die Koalitionäre der 19. Legislaturperiode – erneut eine Vereinigung der (in der damaligen Diktion jedenfalls noch) beiden großen Volksparteien aus CDU/CSU und SPD – nicht, die Thematik der Unternehmenssanktionierung auch im Jahr 2018 erneut zu einem Programmpunkt des gemeinsamen Koalitionsvertrages zu machen. So sollte nach Ansinnen der Regierung sichergestellt werden, „dass bei Wirtschaftskriminalität grundsätzlich auch die von Fehlverhalten von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern profitierenden Unternehmen stärker sanktioniert werden“ und „dass sich die Höhe der Geldsanktion künftig an der Wirtschaftskraft des Unternehmens orientiert.“ Erstmals wurde ein Koalitionsvertrag mit Blick auf ein wie auch immer geartetes Unternehmensstrafrecht konkreter, wenn behauptet wurde, „durch die Abkehr vom Opportunitätsprinzip des bislang einschlägigen Ordnungswidrigkeitenrechts … für eine bundesweit einheitliche Rechtsanwendung“ zu sorgen und „durch klare Verfahrensregeln“ sowie „gesetzliche Vorgaben für <<Internal Investigations>> …, insbesondere mit Blick auf beschlagnahmte Unterlagen und Durchsuchungsmöglichkeiten“ die Rechtssicherheit für Unternehmen zu erhöhen.15 Offenkundig waren diese doch recht deutlichen Ansagen für die Einführung eines strafrechtlichen Verantwortungsregimes von Unternehmen als notwendige gesetzgeberische Reaktion auf die Diesel-Affäre16 sowie weitere, die rechtspolitische Landschaft zu diesem Zeitpunkt beherrschende wirtschaftliche Skandale zu verstehen. Umso erstaunlicher ist es, dass das Vorhaben letztlich an faktischen Umständen – welcher Natur auch immer – gescheitert ist.
Die derzeitige Regierung, erstmals eine Ampel-Koalition aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP, hat die Thematik zwar ebenfalls wieder in ihren Koalitionsvertrag aus dem Jahr 2021 aufgenommen, allerdings ist der Ton im Vergleich zum Vorgängerwerk deutlich zurückhaltender geworden. Dies kann man einerseits sicherlich auf den politischen Führungswechsel im Bundesjustizministerium zurückführen, das jahrelang unter SPD-geführter Hand stand17 und nun von einem FDP-Mann angeführt wird, der für erwartbar liberalere Tendenzen mit einem Trend zu mehr wirtschaftlicher Selbstregulierung einstehen wird. Andererseits ist auch nicht auszuschließen, dass die doch nicht unerhebliche Kritik an dem Entwurf des VerSanG, die nicht nur von Vertretern aus der Wirtschaft und Anwaltschaft erhoben wurde, sondern eben auch von den eigenen Reihen artikuliert wurde, nicht völlig spurlos an der neuen politischen Führungsriege vorbeigegangen ist. Konkret heißt es im Koalitionsvertrag zu dem Vorhaben nun: „Wir schützen ehrliche Unternehmen vor rechtsuntreuen Mitbewerberinnen und Mitbewerbern. Wir überarbeiten die Vorschriften der Unternehmenssanktionen einschließlich der Sanktionshöhe, um die Rechtssicherheit von Unternehmen im Hinblick auf Compliance-Pflichten zu verbessern und für interne Untersuchungen einen präzisen Rechtsrahmen zu schaffen.“18
Was bedeuten nun diese – doch eher orakelgleichen – Andeutungen im aktuellen Koalitionsvertrag für die Zukunft der Verbandssanktionierung in Deutschland? Nach einem eher halbherzigen Versuch aus dem Jahr 2013 und einem nahezu zu vollwertiger Gesetzesform erstarkten Bemühen in den Jahren 2019-2021 stellt sich nun die Frage, ob und wie der dritte Anlauf einer Bundesregierung die deutsche Rechtslandschaft tatsächlich um eine strafrechtliche Verbandshaftung bereichern wird. Um sich einer Antwort auf diese Frage annähern zu können, ist es zunächst einmal sinnvoll und erforderlich, sich mit der aktuellen Rechtslage zu befassen.
Derzeit besteht in Deutschland nur die Möglichkeit, gegen juristische Personen oder Personenvereinigungen ein Bußgeld nach § 30 Abs. 1 OWiG zu verhängen, sofern deren Repräsentanten (d.h., Organe, Vorstände, Vertreter oder sonstige Leitungspersonen) eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit begangen haben, durch die entweder Pflichten des Verbandes verletzt worden sind oder die zu dessen Bereicherung geführt haben oder führen sollten. Neben diese originäre Organ- oder Vertreterhaftung tritt die Haftung für Aufsichtspflichtverletzungen aus § 130 Abs. 1 OWiG, welche die wichtigste Bezugstat für eine Geldbuße nach § 30 Abs. 1 OWiG darstellt.19 Dem Grunde nach erkennt das deutsche Recht damit eine Sanktionsfähigkeit von Verbänden an,20 die auf einem Modell von Repräsentation und Zurechnung beruht, das demjenigen einer Vielzahl kontinentaleuropäischer Rechtsordnungen entspricht. Es fußt auf dem Grundsatz, dass juristische Personen nur für eigenes Verhalten straf- bzw. bußgeldrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können.21 Dieses dem Haftungsregime von § 30 OWiG zugrundeliegende sogenannte Zurechnungsmodell, das sich bereits seit Jahrzehnten nicht unerheblicher Kritik, insbesondere mit Blick auf den strafrechtlichen Schuldgrundsatz,22 ausgesetzt sieht, ist letztlich Konsequenz der organschaftlichen Struktur juristischer Personen, die zwar Träger von Rechten und Pflichten sein können, die für die Wahrnehmung und Erfüllung dieser aber auf Organe und Vertreter angewiesen sind.23 Da eine juristische Person oder ein Verband eben nur durch seine Organe und Vertreter überhaupt Handlungsfähigkeit erlangt, kann für ein strafrechtlich relevantes Verhalten des Verbandes auch nur auf seine Organe und Vertreter abgestellt werden. Dies führt in der Folge dazu, dass delinquentes Verhalten eines berufenen Organs oder Vertreters des Verbandes in einem delinquenten Verhalten des Verbandes resultiert, für das er als eigenes rechtswidriges und schuldhaftes Verhalten haften kann. Ihm wird also – durchaus etwas absurd anmutend24 – das Handeln seiner Organe und Vertreter nicht als fremdes, sondern als eigenes „zugerechnet“, sodass er im Ergebnis rechtlich selbst, vermittelt durch seine Organe und Walter, gehandelt hat. Eines Rückgriffs auf die Grundsätze der klassischen Drittzurechnung, wie z.B. im Rahmen der zivilrechtlichen Stellvertretung, bedarf es für die Legitimation der bußgeldrechtlichen Haftung bei § 30 OWiG folglich nicht.25
Geht man einmal von der rechtlichen Zulässigkeit der Begründung einer Verbandshaftung über das Zurechnungsmodell aus,26 so ist die organschaftliche Verbandstäterschaft bereits im deutschen Recht kodifiziert, freilich bislang „nur“ für den Bereich des Ordnungswidrigkeitenrechts. Dass de lege ferenda der Einführung einer auch strafrechtlichen Verbandshaftung über das Zurechnungsmodell nichts im Wege stünde,27 legt jedenfalls ein Beschluss des BVerfG aus dem Jahr 1966 im sog. Bertelsmann-Lesering-Verfahren nahe.28 Dort heißt es wörtlich: „Die Bestrafung juristischer Personen ist dem geltenden deutschen Rechtssystem nicht fremd. … Die Anwendung strafrechtlicher Grundsätze ist also nicht grundsätzlich ausgeschlossen, wenn das Rechtssubjekt eine juristische Person ist … Die juristische Person ist als solche nicht handlungsfähig. Wird sie für schuldhaftes Handeln im strafrechtlichen Sinne in Anspruch genommen, so kann nur die Schuld der für sie verantwortlich handelnden Personen maßgebend sein.“29
Diese Erkenntnis einer also grundsätzlich denkbaren strafrechtlichen Verantwortlichkeit von juristischen Personen stimmt auch mit der europäischen Rechtsentwicklung überein. So hat über die letzten Jahre verteilt die große Mehrheit der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union Gesetze zur Einführung oder Ausgestaltung eines Unternehmensstrafrechts erlassen,30 die in weiten Teilen einem sog. „europäischen Standardmodell“31 entsprechen, das wiederum im Wesentlichen auf dem im deutschen Ordnungswidrigkeitenrecht vorzufindenden Zurechnungsmodell fußt. Dieses hat sich als solches – und das wird mehrheitlich auch nicht bestritten – rechtspraktisch bewährt32 und könnte insofern durchaus (weiterhin) Pate für ein künftiges Konzept deutscher Verbandssanktionierung stehen. Gleichwohl sei an dieser Stelle erwähnt, dass trotz des vermehrten Drängens von internationaler und europäischer Seite,33 endlich auch in Deutschland die regulatorischen Grundlagen für die strafrechtliche Verantwortlichkeit von juristischen Personen und Personenvereinigungen zu schaffen, hieraus gleichsam keine Pflicht Deutschlands resultiert, zur Umsetzung dieser Vorgaben auf die Instrumente des Strafrechts zurückzugreifen. Vielmehr würden von internationaler und europäischer Seite (jedenfalls noch) auch zivil- oder verwaltungsrechtliche Sanktionen als staatliche Reaktion auf die Beteiligung einer juristischen Person an einer Straftat für ausreichend erachtet.34 Nichtsdestotrotz: Auch wenn ein Sanktionskonzept gegen Verbände nicht strafrechtlicher Natur sein muss, so ist doch heute mehrheitlich unbestritten, dass Verbände jedenfalls Adressaten auch strafrechtlicher Sanktionen sein können. Ein in diesem Zusammenhang immer wieder bemühtes Bonmot aus dem Lateinischen muss heute folgerichtig angepasst werden: „societas delinquere potest“.35
An dieser Stelle soll nun nicht in die umfassende Diskussion um das Für und Wider unterschiedlicher Legitimationsmodelle36 einer strafrechtlichen Unternehmenshaftung eingestiegen werden, wozu neben dem soeben kurz umrissenen Zurechnungsmodell auch Modelle originärer Verbandsverantwortlichkeit oder der sog. strict liability nach dem superior-respondeat-Grundsatz im US-amerikanischen Recht zählen.37 Denn für den Zweck dieses Beitrages ist es an dieser Stelle völlig ausreichend, zu verinnerlichen, dass es dem deutschen Gesetzgeber – bei, und dies ist natürlich Voraussetzung, vorhandenem politischen Willen – aus rein rechtlichen Gründen nicht genommen ist, ein Strafrecht für Unternehmen – in welcher dogmatischen Einkleidung auch immer – einzuführen.38
Wie ein solches in Zukunft aussehen könnte – und vielleicht sogar sollte – soll im Folgenden zumindest skizzenhaft erarbeitet werden. Dabei ist es hilfreich, dass mittlerweile eine Vielzahl an inhaltlich ausgearbeiteten Vorlagen existiert, an denen man sich orientieren kann. Spätestens mit dem NRW-Entwurf eines Verbandsstrafgesetzbuchs (VerbStrG) im Jahr 2013 hat die Diskussion um ein Unternehmensstrafrecht in Deutschland derart an Fahrt aufgenommen, dass dieser erste Aufschlag nicht lange unbegleitet blieb. So folgten dem NRW-Entwurf zeitnah diverse Gesetzentwürfe sowohl aus der Praxis als auch aus der Wissenschaft. Während sich erstere, namentlich der Entwurf des Bundesverbandes der Unternehmensjuristen e.V. (BUJ) aus dem Jahr 201439 sowie der Gesetzgebungsvorschlag des Deutschen Instituts für Compliance aus dem Jahr 201640 für eine Änderung der geltenden Rechtslage im OWiG starkmachten, pochten letztere auf eine umfassende Neuregelung, entweder in einem eigenen Gesetz, wie dies beispielsweise der Kölner Entwurf41 aus dem Jahr 2017 oder der Münchner Entwurf42 aus dem Jahr 2019 vorschlugen, oder als parastrafrechtliche Regelung, wie dies die Frankfurter Thesen43 aus dem Jahr 2018 anregten. Ebenfalls für eine komplette Neuregelung der Verbandssanktionierung inklusive Vorgaben zu Compliance-Maßnahmen und internen Untersuchungen setzte sich das zuletzt gescheiterte VerSanG der Vorgängerregierung ein.
Weiteren Mehrwert könnte die Idee eines deutschen Verbandsstrafrechts ferner aus einem Blick ins benachbarte Ausland ziehen: So könnte beispielsweise Anlehnung an das österreichische Verbandsverantwortlichkeitsgesetz (öVbVG) genommen werden,44 das in seinem § 3 eine originäre Verbandsverantwortlichkeit etabliert und innerhalb dieser zwischen einer Tatbegehung durch Entscheidungsträger oder sonstige Mitarbeiter differenziert,45 oder aber sich am französischen Recht orientiert werden, das über eine Art Stellvertreterhaftung (sog. responsabilité par représentation) ein Zurechnungsmodell kennt, in dem die Organe oder Vertreter des Verbandes ein notwendiges Substrat der Haftung der juristischen Person sind.46
Diese Liste rechtlicher Prototypen eines Verbandssanktionenrechts ließe sich unproblematisch erweitern. Da ein umfassender Rechtsvergleich der Vor- und Nachteile der jeweiligen Modelle hier nicht geleistet werden kann, soll der Fokus auf die Regelungsbereiche gerichtet werden, von deren tatsächlichen Umsetzung realistischerweise in naher Zukunft ausgegangen werden kann. Dies setzt zunächst eine Analyse des rechtlichen status quo mit seinen ausgemachten Defiziten voraus, um im Anschluss unter Berücksichtigung der – zugegebenermaßen sehr vagen – Andeutungen im aktuellen Koalitionsvertrag denkbare Grundstrukturen eines künftigen Verbandssanktionenrechts zu entwerfen.
Nach derzeitigem Stand kann gegen eine juristische Person oder Personenvereinigung ein Bußgeld nach § 30 Abs. 1 OWiG verhängt werden, wenn ein Repräsentant der juristischen Person oder Personenvereinigung eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit begeht, durch die entweder verbandsbezogene Pflichten verletzt werden oder der Verband bereichert wird oder werden sollte. Die Höhe der Geldbuße orientiert sich dabei an der sog. Anknüpfungstat des Repräsentanten. So beträgt die Geldbuße bei vorsätzlichen verbandsbezogenen Straftaten des Repräsentanten bis zu zehn Millionen Euro, bei fahrlässigen verbandsbezogenen Straftaten bis zu fünf Millionen Euro, § 30 Abs. 2 S. 1 OWiG. Im Falle einer Ordnungswidrigkeit, wozu insbesondere die Aufsichtspflichtverletzung des § 130 Abs. 1 OWiG zählt, bestimmt sich das Höchstmaß der Geldbuße nach dem für die Ordnungswidrigkeit angedrohten Höchstmaß (§ 30 Abs. 2 S. 2 OWiG). So beträgt das Höchstmaß bei einer vorsätzlichen Aufsichtspflichtverletzung nach § 130 Abs. 3 S. 1 OWiG eine Million Euro; allerdings folgt aus der in § 130 Abs. 3 S. 2 OWiG zugleich angeordneten Anwendung des § 30 Abs. 2 S. 3 OWiG, dass sich das Höchstmaß der Verbandsgeldbuße für die vorsätzliche Verletzung der Aufsichtspflicht sogar auf zehn Millionen Euro verzehnfacht, wenn die Pflichtverletzung des Mitarbeiters mit Strafe bedroht ist. Beispielhaft würde also die Untreue eines vertretungsberechtigten GmbH-Geschäftsführers ebenso ein Höchstmaß der Geldbuße i.H.v. zehn Millionen Euro für die GmbH als juristische Person nach sich ziehen (§ 30 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 Nr. 1 OWiG) wie die Untreue eines angestellten Mitarbeiters, wenn der Geschäftsführer der GmbH diese unter vorsätzlicher Verletzung seiner Aufsichtspflichten nach § 130 Abs. 1 OWiG ermöglicht hat (vgl. § 130 Abs. 3 S. 1, 2 OWiG i.V.m. § 30 Abs. 3 S. 2 OWiG). Für die konkrete Bemessung der Höhe der Geldbuße im Einzelfall ordnet § 17 Abs. 3 OWiG an, dass es hierbei auf die Bedeutung der Anknüpfungstat und des den Täter treffenden Vorwurfs sowie die wirtschaftlichen Verhältnissen des Verbandes ankommt.
Neben diesen sog. Ahndungsteil der Geldbuße tritt über § 30 Abs. 3 OWiG i.V.m. § 17 Abs. 4 OWiG bislang ein sog. Abschöpfungsteil, der alle aus der Anknüpfungstat erwachsenen wirtschaftlichen Vorteile erfasst und sogar die in § 30 Abs. 2 OWiG genannten Höchstbeträge überschreiten kann. Die Geldbuße ist also darauf ausgerichtet, den wirtschaftlichen Vorteil, den der Verband aus der Anknüpfungstat gezogen hat, zum Zweck der Sanktionierung zu übersteigen, was dazu führen kann, dass der Gesamtbetrag der Geldbuße, zusammengesetzt aus Ahndungs- und Abschöpfungsteil, deutlich über dem Höchstahndungsbetrag von zehn Millionen Euro liegt. So betrug die im Zusammenhang mit dem Abgasskandal gegen VW verhängte Geldbuße bspw. insgesamt eine Milliarde Euro, wovon nur fünf Millionen Euro den Ahndungsteil ausmachten und die restlichen 995 Millionen den Abschöpfungsteil.47 An diesem etablierten System der bußgeldrechtlichen Verbandssanktionierung hat sich über die Jahre mannigfaltige Kritik breit gemacht, die sowohl materielle als auch verfahrensrechtliche Aspekte betrifft und die im Folgenden kurz umrissen sei:48
So sei – in materieller Hinsicht – die Beschränkung der Geldbuße auf maximal zehn Millionen Euro in § 30 Abs. 2 OWiG zu niedrig, führe zu einer Ungleichbehandlung von kleineren und größeren Unternehmen und entbehre einer abschreckenden Wirkung gerade mit Blick auf internationale Großkonzerne.49 Befeuert wird dieses Unverständnis über die geringe Sanktionsobergrenze durch das mittlerweile vermehrte Auffinden von am Konzernumsatz orientierten Geldbußen in anderen Rechtsbereichen, wie beispielsweise dem Kartellrecht (§ 81c Abs. 2 GWB), dem Wertpapierhandelsrecht (§ 120 Abs. 17-22a WpHG) oder dem Datenschutzrecht (Art. 83 Abs. 4-6 DSGVO). Darüber hinaus sei die derzeitige Regelung der Zumessungskriterien für die Höhe der Geldbuße über § 17 Abs. 3 OWiG unzureichend und lückenhaft;50 insbesondere für die Frage, in welchem Ausmaß Compliance-Anstrengungen sanktionsmildernde Berücksichtigung finden können, fehle es an zuverlässigen Anhaltspunkten.51 Schließlich führe der Vergleich mit ausländischen Rechtsordnungen, vornehmlich derjenigen der USA, zu einem Wettbewerbsnachteil, der einerseits auf die vergleichsweise niedrigen Bußgeldgrenzen zurückzuführen sei, und andererseits auf der strikten Geltung des Territorialitätsprinzips nach § 5 OWiG beruhe,52 wonach eine Geldbuße regelmäßig nur in Betracht kommt, wenn die Straftat oder Aufsichtspflichtverletzung eines ausländischen Unternehmensträgers im Inland begangen wurde.
In verfahrensrechtlicher Hinsicht wird in erster Linie die Anbindung des geltenden Rechts an das Opportunitätsprinzip (§§ 30 Abs. 1, 47 Abs. 1 OWiG) kritisiert, das für die bundesweit sehr uneinheitliche Praxis der Sanktionierung verantwortlich gemacht wird.53 Aber auch die unzureichenden Einstellungsmöglichkeiten in § 47 OWiG, insbesondere das Fehlen der Möglichkeit des Einstellens gegen Auflagen analog § 153a StPO,54 sowie Unsicherheiten hinsichtlich der verfahrensrechtlichen Stellung der Verbände55 werden weitläufig bemängelt. Dass darüber hinaus keinerlei Vorgaben zu internen Untersuchungen in Unternehmen kodifiziert sind,56 ist ein weiterer Punkt, warum sich große Teile der Literatur und auch der Praxis für eine komplette Neuregelung der Verbandssanktionierung starkmachen.
Ein Großteil dieser Kritikpunkte ist von den meisten der soeben erwähnten Gesetzentwürfe aufgegriffen worden, wenngleich in unterschiedlichen Ausprägungen: So ist allen Vorschlägen gemein, dass sie sich für eine Berücksichtigung von Compliance-Bemühungen des Verbandes bei der Bemessung der Höhe einer Geldbuße oder -strafe einsetzen, oder sogar dafür votieren, bei wirksamen Compliance-Systemen von Strafe ganz abzusehen oder zumindest das Verfahren (ggf. gegen Auflagen) einzustellen.57 Ebenfalls einig scheint man sich größtenteils58 dahingehend zu sein, dass es einer Anpassung des derzeitigen Bußgeldrahmens nach oben bedarf. Teilweise wird hierfür vorgeschlagen, die Geldbuße künftig am jeweiligen Konzernumsatz auszurichten und variabel zu kappen,59 teilweise wird die Übertragung des aus dem Individualstrafrecht bekannten Tagessatzformats angeregt.60 Den Vorschlägen der jüngeren Zeit ist darüber hinaus gemein, dass sie sich allesamt für eine positivrechtliche Regelung von internen Ermittlungen einsetzen,61 die einerseits Vorgaben zur Kooperation zwischen Verband und Strafverfolgungsbehörden inklusive der Beschlagnahmerechte treffen, und andererseits mit erstrebenswerten Auswirkungen für den kooperierenden Verband, z.B. in der Form von Milderung oder sogar Absehen von Sanktionierung, verbunden sein sollen. Gespalten sind die Lager bei der Frage der Anwendung des Opportunitäts-62 oder des Legalitätsprinzips63, wobei auch hier die neueren Entwürfe gemeinsam für die Geltung des Legalitätsprinzips stimmen, was daran liegen mag, dass sie sich gleichsam für die Übertragung der Regeln der StPO inklusive besonderer Einstellungsvorschriften starkmachen.64 Schließlich scheint ein Konsens mit Blick auf einen im Verhältnis zur bisherigen Erstreckung auf Auslandstaten erweiterten Anwendungsbereich zu bestehen.65
Lässt man die Frage nach dem konkreten dogmatischen Fundament einer Verbandssanktionierung, die seit dem NRW-Entwurf, der sich noch explizit zu einem Verbandsstrafrecht bekannt hat, von keinem anderen Entwurf mehr ausdrücklich aufgeworfen, sondern vielmehr durch die Bezeichnung als „Verbandssanktion“ mehr oder weniger deutlich vermieden wurde,66 sowie die Frage nach weiteren Detailaspekten67 einmal außen vor, so lässt sich ein grober Änderungskanon zusammenfassen, über den wohl Einigkeit bestünde: Erstens: Die Regelung eines neuen Verbandssanktionenrechts in einem eigenständigen Gesetzeswerk. Zweitens: Die Überarbeitung des Bußgeldrahmens, insbesondere mit Blick auf dessen Höhe und Flexibilität. Drittens: Die Berücksichtigung von Compliance-Maßnahmen als relevantes Zumessungskriterium. Viertens: Die Notwendigkeit einer positivrechtlichen Regelung von unternehmensinternen Untersuchungen.
Vergleicht man diese Punkte mit den Äußerungen im Koalitionsvertrag der derzeitigen Ampelregierung, so ist eine Übereinstimmung bei den Regelungsaspekten der Sanktionshöhe, der Festlegung von Compliance-Pflichten und der Einführung eines Regelungsrahmens von internen Untersuchungen festzustellen. Es spricht also viel dafür, dass ein künftiges Verbandssanktionenrecht jedenfalls mit Lösungsmodellen für diese drei Kernanliegen aufwarten wird, nachdem diese sowohl von bisherigen Reformideengebern als auch von der aktuellen Regierung adressiert wurden. Wie genau diese beispielhaft aussehen könnten, soll im Folgenden – zumindest überblicksartig68 – zur Diskussion gestellt werden:
Zunächst einmal wird sich ein künftiges Verbandssanktionenrecht zum Rahmen und zur Höhe einer monetären Sanktionierung zu verhalten haben. Ob es sich hierbei um eine Geldbuße oder um eine Geldstrafe handelt, wird von der dogmatischen Einkleidung durch den Gesetzgeber abhängen und ist für die konkrete Ausgestaltung der Sanktion ohne Belang. Die bislang geltende Regelung im Ordnungswidrigkeitenrecht, die zwischen einem Ahndungs- und einem Abschöpfungsteil unterscheidet, und die für den Ahndungsteil des Bußgeldes eine Obergrenze von maximal zehn Millionen Euro unabhängig von der Größe und Wirtschaftskraft des betroffenen Verbandes vorsieht, wurde und wird zu Recht kritisiert. Denn insbesondere mit Blick auf große, international agierende Wirtschaftsunternehmen ist die Sanktionsobergrenze derzeit zu niedrig gegriffen. Dies soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass über den Abschöpfungsteil auch bisher schon faktisch enorme Gesamtsummen von einem Verband eingefordert werden können. Dies hat das Beispiel der gegen die VW-AG verhängten Geldbuße in Höhe von einer Milliarde Euro eindrücklich gezeigt. Mit dem Abschöpfungsteil soll dem Verband aber nur der wirtschaftliche Vorteil genommen werden, den er aufgrund seines sanktionsauslösenden Verhaltens zu Unrecht angehäuft hat. Wie auch im Individualstrafrecht gilt das Prinzip: „crime must not pay“69. Soll mit der Verbandssanktionierung – sei es als Geldbuße oder als Geldstrafe – jedoch auch ein gesellschaftlicher Tadel einhergehen, der das Vorgehen als Unrecht brandmarkt, scheint es für wirtschaftskräftige Großkonzerne angemessen, den Ahndungsteil nach oben hin anzupassen.
Wie wird dieses Vorhaben nun aber optimal umgesetzt, ohne dass insbesondere kleinere und mittlere Unternehmen von existenzvernichtenden Sanktionshöhen bedroht werden? Denn bei aller Berechtigung des Anliegens, unlauter agierende Wirtschaftsverbände in ihre Schranken weisen und zu good corporate citizens anleiten zu wollen,70 darf dieses nicht den Blick auf eine maßvolle Gesetzgebung versperren, die immer den Mittelstand als Rückgrat der deutschen Wirtschaft im Bewusstsein tragen sollte. Aus diesem Grund wäre es zu befürworten, eine klare Trennung zwischen der Abschöpfung des erlangten wirtschaftlichen Vorteils auf der einen Seite und der Ahndung als Folge des sanktionsauslösenden Verhaltens auf der anderen Seite zu schaffen.71 Der abschöpfende Teil könnte durch die zwingende Geltung und Anwendung der Einziehungsregeln nach §§ 73 ff. StGB verwirklicht werden, wie dies auch eine Vielzahl der bisherigen Reformvorschläge vorsieht.72 Bislang ist die Anordnung der Einziehung nach der Vorschrift des § 29a OWiG lediglich fakultativer Natur, der in Anbetracht des bereits in der Geldbuße enthaltenen Abschöpfungsanteils nach § 30 OWiG eine bloß lückenfüllende Position zukommt.73 Der Ahndungsteil eines künftigen Verbandssanktionenrechts sollte sich im Optimalfall aus einem aus dem Individualstrafrecht bekannten Tagessatzsystem sowie erhöhten, an dem Grad der Verfehlung sowie der Größe bzw. wirtschaftlichen Kraft des Verbandes orientierten Obergrenzen zusammensetzen.74
So könnten beispielsweise als Obergrenze bei vorsätzlichen Verbandsverfehlungen zwanzig Millionen Euro und bei fahrlässigen Verbandsverfehlungen zehn Millionen Euro angesetzt werden, die sich für umsatzstarke Unternehmen ab einer bestimmten Größe, beispielsweise ab einem jährlichen Umsatz von mehr als einer Milliarde Euro, verdoppeln könnten.75 Damit wäre auf einer ersten Stufe, nämlich mit Blick auf das Maximum der zu verhängenden Sanktion, dem Unterschied von kleineren zu größeren Unternehmen besser Rechnung getragen als dies bislang mit den starren – und mit Blick auf sehr große Unternehmen zu niedrigen – Obergrenzen in § 30 Abs. 2 OWiG der Fall ist. Von einer generellen Kopplung der Sanktionsobergrenze an den Umsatz des Unternehmens, wie es beispielsweise im Kartellrecht (§ 81c Abs. 2 GWB), im Wertpapierhandelsrecht (§ 120 Abs. 17 S. 2 Nr. 2 WpHG), im Datenschutzrecht (Art. 83 Abs. 4, Abs. 5 DSGVO) sowie im neuen Lieferkettensorgfaltspflichtgesetz76 (§ 24 Abs. 3 f. LkSG) vorgesehen ist, ist dagegen abzuraten. Auch das am Ende gescheiterte VerSanG sah eine Heraufsetzung des Sanktionsrahmens auf bis zu 10 % des weltweiten Konzernumsatzes bei Verbänden mit einem durchschnittlichen Jahresumsatz von mehr als einhundert Millionen Euro vor.77 Allerdings besteht selbst bei sehr großen Unternehmen die Gefahr unverhältnismäßiger, im schlimmsten Fall sogar existenzvernichtender Sanktionshöhen. Dies liegt darin begründet, dass allein der Umsatz noch nichts über die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Unternehmens aussagt, da es in erster Linie auf die Gewinnmarge bzw. die Differenz zwischen Umsatz und Gewinn ankommt.78 Verstärkt würde das Ganze durch die Ausrichtung der Sanktionsobergrenze am weltweiten Konzernumsatz auch für konzernangehörige Unternehmen.79 Würde neben diese im Einzelfall potentiell immens hohe Sanktion zusätzlich die verpflichtende Anordnung der Einziehung treten, könnten ganze Unternehmungen mit einem Schlag wirtschaftlich vernichtet werden. Das kann nicht im Interesse des Gesetzgebers sein. Ob dieser sich am Ende tatsächlich gegen eine an den Umsatz gekoppelte Sanktionsobergrenze entscheidet, muss jedoch mit Blick auf die bereits eben benannten, zum Teil erst vor Kurzem80 eingeführten umsatzgesteuerten Geldbußen in anderen Regelungsbereichen angezweifelt werden.81
Selbst, oder vielleicht gerade, in diesem Fall wäre es dann zu wünschen, dass der Gesetzgeber es nicht bei einem rein umsatzorientierten Geldsummensystem belässt, sondern sich für die Einführung eines nach der Schwere der verbandsbezogenen Zuwiderhandlung gestaffelten Tagessatzsystems entscheidet. Vorbild könnte insoweit bspw. der Münchner Entwurf stehen, der in seinem § 7 Abs. 3 b) 540 Tagessätze vorsieht, wenn die verbandsbezogene Zuwiderhandlung mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren bedroht ist.82 Die Höhe eines Tagessatzes sollte in diesem Fall anhand der Ertragslage in der Form des handelsrechtlichen Jahresüberschusses sowie der sonstigen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Verbandes festgesetzt werden, vgl. § 8 Abs. 6 des Münchner Entwurfs.83 Der Vorteil gegenüber einem Geldsummensystem bestünde darin, dass ein Tagessatzsystem durch die Berücksichtigung von Schwere, Intensität und Wirkungskreis der jeweiligen Verbandstat eine verlässliche Abbildung des Maßes der Verbandsschuld ermöglichen würde, während dies bei einem Geldsummensystem, das sich ausschließlich an den wirtschaftlichen Verhältnissen des Verbandes orientiert, schlichtweg nicht möglich ist.84 In der Zusammenschau mit einem im Vergleich zu § 17 Abs. 3 OWiG deutlich auszudifferenzierenden Sanktionsbemessungskatalog (zur diesbezüglichen Berücksichtigung von Compliance-Maßnahmen s. sogleich 6.2) wäre auf diese Weise eine äußerst flexible Handhabung bei der Sanktionierung von Verbandsverfehlungen denkbar, die auch den besonderen Belangen kleiner und mittlerer Unternehmen Rechnung tragen würde.85
Ein zweiter bedeutsamer Kernaspekt eines künftigen Verbandssanktionenrechts besteht in der Festlegung und Bedeutung von Criminal-Compliance-Pflichten für die Sanktionsbemessung. Wenngleich über die Reichweite der Berücksichtigung von vorhandenen oder zu errichtenden Compliance-Management-Systemen (im Folgenden: CMS) noch Uneinigkeit besteht, so steht außer Frage, dass Compliance-Programme in Zukunft eine Auswirkung auf die Sanktionierung des betroffenen Verbandes haben sollen und müssen.86 Damit ist die Debatte an dieser Stelle schon weiter fortgeschritten als im Kartellrecht, in welchem die Frage der Berücksichtigungsfähigkeit von Compliance-Maßnahmen bei der Verhängung und Bemessung einer Geldbuße noch kontrovers diskutiert wird.87 Während sich das Bundeskartellamt (BKartA) im Einklang mit der Europäischen Kommission generell gegen die Honorierung von Compliance-Bemühungen bei der Bußgeldbemessung ausspricht,88 existieren im Schrifttum schon seit längerem Stimmen, die sich für eine zumindest bußgeldmindernde Berücksichtigung derartiger Bestrebungen starkmachen.89 Auch der BGH hat in seiner Panzerhaubitzen-Entscheidung erstmalig festgehalten, dass die Installation eines effizienten Compliance-Managements, das auf die Vermeidung von Rechtsverstößen ausgelegt ist, vor der Rechtsverletzung für die Bemessung der Geldbuße von Bedeutung ist.90 Dies gelte auch für die Optimierung von betriebsinternen Abläufen zur zukünftigen Minimierung vergleichbarer Normverletzungen nach Bekanntwerden des Normverstoßes. Keine konkretisierenden Angaben hat der BGH jedoch bislang dahingehend getätigt, in welchem Maße Compliance-Strukturen bzw. ihr Fehlen sanktionsmildernd bzw. sanktionsschärfend zu berücksichtigen sind, und was er genau unter einem effizienten Compliance-Management versteht.
Will man der Verbandssanktionierung in Anlehnung an angloamerikanische Vorbilder (auch) spezialpräventive Zwecke beimessen, so sollten zumindest wesentliche Eckpunkte eines tauglichen CMS seitens des Gesetzgebers festgelegt werden, um einerseits den Unternehmen Rechtssicherheit zu vermitteln, und um andererseits der Rechtsprechung klare Leitlinien für die Beurteilung eines Compliance-Systems als „effizient“ an die Hand zu geben.91 Insofern überzeugte es nicht, dass das gescheiterte VerSanG vollständig auf eine Definition von Compliance-Maßnahmen verzichtet hat.92 Taugliche Compliance-Maßnahmen könnten beispielsweise in der sorgfältigen Auswahl, Instruktion, Kontrolle und Überwachung von Mitarbeitern, einer regelmäßigen und umfassenden Risikoanalyse, dem Bereitstellen von Schulungs- und Fortbildungsmöglichkeiten sowie der Einrichtung von hinweisgebenden Stellen gesehen werden.93 Des Weiteren wäre es überlegenswert, die generelle Verpflichtung zur Einrichtung präventiver Compliance-Maßnahmen bzw. den an die zwingende Einrichtung solcher Maßnahmen geknüpften Milderungsbonus auf Unternehmen einer bestimmten Größenordnung zu beschränken, um kleinere und mittelständische Unternehmen mit der Etablierung und Unterhaltung von CMS nicht über Gebühr finanziell zu belasten und in ihrer wirtschaftlichen Entfaltungsmöglichkeit zu beschränken.94
Mit einem stark spezialpräventiv ausgerichteten Ansatz, der den Sinn und Zweck verfolgt, Unternehmen einen wesentlichen Anreiz zu setzen, etwaigem Fehlverhalten von Mitarbeitern durch die Implementierung von effizienten Compliance-Programmen vorzubeugen und so dem Ideal eines good corporate citizen zu entsprechen,95 könnte man schließlich darüber nachdenken, dem Bestehen entsprechender CMS sogar tatbestandsausschließende Wirkung zukommen zu lassen. Das BKartA lehnt solche Überlegungen mit dem Argument ab, dass gerade der Verstoß gegen das bestehende System dessen Ineffizienz bewiesen habe und dass durch die mögliche Belohnung ineffektiver Compliance-Systeme ansonsten falsche Anreize gesetzt würden.96 Richtig ist an dieser Einschätzung, dass aus kriminologischer Sicht die spezialpräventiven Zwecke der Ausarbeitung und Implementierung von CMS bislang nicht hinreichend belegt sind.97 Allerdings stellt sich jedenfalls mit Blick auf Aufsichtspflichtverletzungen im Rahmen des § 130 Abs. 1 OWiG die Frage, warum ein Compliance-System, das den – freilich für ein künftiges Verbandssanktionenrecht noch zu erarbeitenden – gesetzlichen Anforderungen an Effizienz und Effektivität entspricht, nicht den Vorwurf eines Organisations- bzw. Aufsichtsmangels widerlegen können soll.98 Denn ein die betrieblichen Bedürfnisse befriedigendes CMS müsste den Anforderungen an eine taugliche Aufsichtsmaßnahme im Sinne des § 130 Abs. 1 OWiG genügen. Die Tatsache, dass sich nachträglich, aus einer ex-post-Perspektive, zumeist Anhaltspunkte finden lassen, die zu einer weiteren Optimierung hätten beitragen können, müsste als klassischer Rückschaufehler (hindsight bias) außer Betracht bleiben.99 Voraussetzung einer insoweit denkbaren Enthaftung bereits auf Tatbestandsebene wäre freilich, dass de lege lata oder jedenfalls im Rahmen verbindlicher obergerichtlicher Rechtsprechungsvorgaben festgelegt ist, welche Anforderungen einem effizienten CMS genügen. Dies gilt umso mehr, als vor allem nicht-international tätige, kleinere Unternehmen, die sich anders als große Konzerne nicht ohnehin an weltweiten Compliance-Standards orientieren, mit der Einrichtung von entsprechenden Compliance-Programmen sowohl finanziell belastet als auch mit der Schaffung weiterer Rechtspflichten einem erhöhten sanktionsrechtlichen Haftungsrisiko ausgesetzt werden.100
Der dritte und letzte Kernaspekt eines künftigen Verbandssanktionenrechts betrifft die Schaffung eines positivrechtlichen Rahmens für unternehmensinterne Untersuchungen. Abseits der Tatsache, dass die Regelung unternehmensinterner Untersuchungen aus Sicht aller Beteiligten wünschenswert ist und seitens der OECD101 auch explizit eingefordert wird, besteht wenig Klarheit über die konkreten Ausformungen einer solchen. Zentrale Streitpunkte sind dabei die Fragen nach dem Anlass und der Ausgestaltung der Zusammenarbeit zwischen Unternehmen und Strafverfolgungsbehörden, nach der Beschlagnahmefreiheit von Ergebnissen aus unternehmensinternen Untersuchungen sowie nach einem möglichen Schweigerecht bei Mitarbeiterbefragungen. Schließlich ist klärungsbedürftig, welche Auswirkungen die Kooperation des Unternehmens im Rahmen einer internen Untersuchung auf sanktionsrechtlicher Ebene haben soll.102
Bevor man sich jedoch mit Detailfragen einer konkreten Ausgestaltung von unternehmensinternen Untersuchungen befasst, sollte man sich vergegenwärtigen, dass die Durchführung unternehmensinterner Untersuchungen kein für Verbände völlig fremder Vorgang ist und nicht nur vor einem sanktionsrechtlichen Hintergrund seitens des Staates Relevanz erlangt, sondern auch durch arbeitsrechtliche, gesellschaftsrechtliche oder sonstige haftungsrechtliche Vorgaben ausgelöst werden kann.103 Notwendig werden interne Untersuchungen aus Sicht des Verbandes meist vor dem Hintergrund, dass er aufgrund arbeitsteiliger Strukturen in der Regel über keine ausreichende Tatsachenkenntnis verfügt, und im Gegensatz zu einer beschuldigten Individualperson zunächst einmal genuine Sachverhaltsaufklärung betreiben muss, um sich gegen mögliche Vorwürfe – welcher Art auch immer – verteidigen zu können.104 Ausgehend von dieser Sachlage erscheint die Klärung folgender Eckpunkte bei der Regelung unternehmensinterner Untersuchungen sinnvoll, die hier aus Platzgründen freilich nur oberflächlich andiskutiert werden können:
Anders als das gescheiterte VerSanG dies vorgesehen hatte, sollte von einer zwingenden personalen Trennung zwischen Unternehmensverteidigung auf der einen Seite und Untersuchungsführung auf der anderen Seite abgesehen werden. Sie wird in erster Linie befürwortet, um die Unabhängigkeit des Untersuchungsführers und die Glaubhaftigkeit der Ergebnisse zu garantieren, was bei einer Verbindung von Verteidigung und interner Untersuchung nicht gewährleistet sei.105 Abgesehen davon, dass eine solche Einschätzung ein fragwürdiges Bild moderner (Unternehmens-)Verteidigung nahelegt,106 führt sie auch in der praktischen Umsetzungen zu Komplikationen: Denn wenn, wie oben erläutert, das Unternehmen für seine Verteidigung ohnehin eine umfassende Sachverhaltsaufklärung betreiben muss, führt die daneben erforderlich werdende Aufklärungspflicht aus der internen Untersuchung einerseits zu einer finanziellen Mehrbelastung des Unternehmens, das sowohl Verteidigung als auch Untersuchungsführung beauftragen muss,107 und produziert andererseits schwierige Abgrenzungsfragen zwischen beschlagnahmefreien Verteidigungsunterlagen und beschlagnahmefähigen Unterlagen aus internen Ermittlungen.108 Es bestünde schließlich die wenig wünschenswerte Gefahr einer Informationsasymmetrie zwischen Verteidigung auf der einen Seite und interner Durchsuchungsführung auf der anderen Seite, die weder im Interesse des betroffenen Unternehmens noch der staatlichen Verfolgungsorgane sein kann. Dagegen ist die angebliche Gefahr eines Konfliktpotentials zwischen Unternehmensverteidigung und Untersuchungsführung als gering einzuschätzen, zumal Unternehmensverteidiger und Untersuchungsführer für ein- und denselben Auftraggeber tätig wären. In der Realität entspricht es ohnehin schon einer best practice der Unternehmensverteidigung, für die Durchführung interner Untersuchungen eine dritte, fachkundige Partei zu engagieren.109
Ob mit Trennungsgebot oder ohne: Im Rahmen einer positivrechtlichen Regelung von internen Untersuchungen wäre es als weiterer Punkt zu befürworten, ein umfassendes Beschlagnahmeverbot für die Ergebnisse interner Untersuchungen vorzusehen.110 Zwar besteht nach dem jedenfalls mit Fragezeichen zu versehenen Verständnis des BVerfG im Jones-Day-Verfahren ein aus der Verfassung abgeleiteter umfänglicher Beschlagnahmeschutz für Unterlagen aus unternehmensinternen Untersuchungen nicht.111 Dies wird jedoch der Interessenslage des Unternehmens nicht gerecht, das in der Regel qua Gesellschaftsrecht angehalten ist, bei irregulären Vorgängen interne Aufklärung zu betreiben und gegebenenfalls belastendes Beweismaterial zu Tage zu fördern.112 Schließlich würde sich der Staat sprichwörtlich ins eigene Fleisch schneiden: Denn wenn die Ergebnisse interner Untersuchungen ohne weiteres seitens der Staatsseite für die Durchsetzung repressiver Sanktionen beschlagnahmt werden könnten, wird keine Unternehmensleitung, die ja ansonsten sehenden Auges zur Schädigung der eigenen Position beitragen würde, ein großes Interesse an einer umfassenden und gründlichen Aufklärung des Sachverhaltes haben.113
Ein nächster wesentlicher Regelungsaspekt bei der gesetzlichen Ausgestaltung von unternehmensinternen Untersuchungen sollte die Frage der Aussagepflicht bzw. des Schweigerechts im Rahmen von Mitarbeiterbefragungen als einem der wichtigsten Erkenntnismittel im Rahmen interner Untersuchungen sein. Denn an diesem Punkt scheiden sich die Geister: Besteht eine arbeitsrechtlich begründbare, die potentielle Selbstbelastung mitumfassende Aussagepflicht des Mitarbeiters und wenn ja, könnte eine solche durch ein (straf-)prozessuales Aussageverweigerungsrecht möglicherweise konterkariert werden? Ohne hier auf Details eingehen zu können,114 kommt für die Erreichung des Zwecks interner Untersuchungen bei gleichzeitigem Schutz des Mitarbeiters vor einer zwingenden Selbstbelastung nur eine Lösung als angemessener Ausgleich der widerstreitenden Interessen in Betracht, die im Ausgangspunkt zwischen den verschiedenen Arten interner Untersuchungen differenziert:115 Während den Mitarbeiter im Rahmen einer internen Untersuchung zur Erfüllung gesellschaftsrechtlicher Pflichten des Verbandes (haftungsbezogene interne Untersuchung) eine umfassende arbeitsrechtliche Aussagepflicht, jedenfalls bezogen auf den verbandsrelevanten Vorwurf und dessen Aufklärung, trifft,116 erscheint es mit Blick auf interne Untersuchungen, die von vorneherein auf eine Kooperation mit staatlichen Verfolgungsbehörden ausgerichtet sind (sanktionsbezogene interne Untersuchungen), geboten, dem Mitarbeiter vor dem Hintergrund des nemo-tenetur-Grundsatzes ein umfassendes Schweigerecht analog § 136 Abs. 1 S. 2 StPO bzw. § 55 Abs. 2 StPO zuzugestehen, über das er auch zu belehren wäre. Denn während in den Fällen einer haftungsbezogenen internen Untersuchung das Interesse des Arbeitgebers bzw. des Verbandes an einer raschen und umfassenden Sachverhaltsaufklärung regelmäßig das Interesse des Arbeitnehmers an seiner Selbstbelastungsfreiheit überwiegt,117 müssen in den Fällen sanktionsbezogener interner Untersuchungen, die nur zur Aufdeckung straf- oder ordnungswidrigkeitenrechtlicher Verstöße und der Ermöglichung einer potentiellen Verbandssanktionierung erfolgen, höhere rechtsstaatliche Standards gelten; denn die im Rahmen solcher sanktionsbezogener Untersuchungen stattfindende Verlagerung staatlicher Aufgaben auf den Verband darf nicht zu einer Untergrabung der verfassungsrechtlich verankerten Schutzrechte Privater im Verhältnis zum Staat führen.
Dies führt zu folgenden Konsequenzen für ein mögliches Strafverfahren gegen den aussagenden Mitarbeiter: Im Fall einer sanktionsbezogenen verbandsinternen Untersuchung führt ein Verstoß gegen die Belehrungspflicht über das Schweigerecht zu den im Strafprozess allgemein geltenden Beweisverwertungsverboten; dies ist nur folgerichtig, wenn die verbandsinterne Untersuchung Erkenntnisse zu Tage zu fördern bezweckt, die andernfalls im Rahmen hoheitlicher Befragungen erlangt werden müssten. Im Fall einer haftungsbezogenen internen Untersuchung existiert dagegen zunächst weder ein Aussageverweigerungsrecht des Mitarbeiters noch eine entsprechende Belehrungspflicht. Jedoch spricht die Gewährleistung einer effektiven Absicherung der arbeitsrechtlichen Auskunftspflicht dafür, dem im Konflikt zwischen Aussage und Selbstbelastung stehenden Mitarbeiter im späteren Strafverfahren auf irgendeine Art und Weise entgegenzukommen. In Betracht käme auch hier ein Beweisverwertungsverbot, das allerdings nur die Verwertbarkeit der Aussage an sich verhindert und nicht davor schützt, dass die Ermittlungsbehörden aufgrund der Aussage weitere Ermittlungen anstellen. Der Normierung eines weitergehenden Beweisverwendungsverbotes, wodurch die Aussage auch nicht zur Grundlage weiterer Ermittlungen gemacht werden dürfte, wie dies bspw. in § 97 Abs. 1 S. 3 InsO vorgesehen ist,118 stünde vermutlich das staatliche Strafverfolgungsinteresse entgegen.119 Alternativ wäre zu erwägen, die bestehende Auskunftspflicht im Rahmen der internen Untersuchung zu einem zwingenden Strafmilderungsgrund zu erheben.120
Bleibt letztlich die Frage, auf welche Art und Weise sich die Kooperation des Verbandes im Rahmen einer internen Untersuchung auf die mögliche Sanktionierung auswirken kann und soll. Dass eine Milderung auf Rechtsfolgenseite die naheliegende Konsequenz für die bereitwillige Zusammenarbeit des Verbandes mit den staatlichen Verfolgungsbehörden darstellt, trifft auf allgemeine Zustimmung. Strittig ist allerdings, unter welchen Voraussetzungen von einer ausreichenden Kooperation des Unternehmens ausgegangen werden kann.121 Wie ist bspw. vorzugehen, wenn ein Whistleblower den relevanten Sachverhalt bereits an die Behörden herangetragen hat,122 oder wenn die Mitarbeiterbefragungen zu keinem relevanten Ergebnis geführt haben? Richtigerweise müssen für diese Situationen Richtlinien entwickelt werden, anhand derer die Kooperationsbereitschaft bzw. Aufklärungsleistung des Verbandes beurteilt werden kann. Pate könnten insoweit die U.S. Sentencing Guidelines stehen, nach denen es entscheidend darauf ankommt, ob die Strafverfolgungsbehörden durch das seitens des Verbandes zur Verfügung gestellte Material in die Lage versetzt werden, Art und Umfang des Vorwurfes sowie die verantwortlichen Personen zu identifizieren, wobei die fehlende Kooperationsbereitschaft einzelner Mitarbeiter dem Unternehmen in der Regel nicht zum Nachteil gereicht.123
Nachdem die letzte Bundesregierung insbesondere die Fachverbände und Interessensvertreter aus der Wirtschaft durch eine Nichtbilligung ihrer Stellungnahmen im Laufe des Gesetzgebungsverfahren in hohem Maße düpiert und so enorm viel Vertrauen verspielt hat,124 wird es kein einfaches Unterfangen werden, ein konsensfähiges Verbandssanktionenrecht auf den Weg zu bringen. Für die Ausarbeitung einer tragfähigen Rechtsgrundlage wird es zentral auf eine gute Abstimmung zwischen Justiz, Fachverbänden, Unternehmen und Praktikern ankommen, um gangbare Regelungen zu finden, die weder den Wirtschaftsstandort Deutschland durch drakonische Verbandssanktionen gefährden noch als zahnloser Tiger ihren Zweck verfehlen. Ein entscheidender Punkt wird in diesem Zusammenhang auch die Frage nach den personellen Ressourcen bei der Umsetzung des Vorhabens sein; will der Staat eine effektive Bekämpfung von Unternehmenskriminalität, wird er um einen Ausbau der behördlichen Personaldecke nicht umhinkommen.
Inhaltlich erwartet uns in den nächsten Jahren ohne Frage ein gewandeltes Recht der Verbandssanktionierung; in welcher Façon,125 wird von grundlegenden rechtspolitischen Entscheidungen abhängen. Kernaspekte eines solchen umfassen nach hiesiger Überzeugung jedenfalls die Anpassung der Sanktionsobergrenze, die Berücksichtigung von Compliance-Maßnahmen als Sanktionsbemessungskriterium sowie die positivrechtliche Regelung unternehmensinterner Untersuchungen. Bei alledem sollte der Gesetzgeber mit Augenmaß vorgehen, zumal sich Unternehmen ohnehin fortlaufend gesteigerten Organisations- und Sorgfaltspflichten ausgesetzt sehen, wie zuletzt die Einführung des neuen Lieferkettensorgfaltspflichtgesetzes (LkSG)126 und der Entwurf eines Hinweisgeberschutzgesetzes (HinSchG-E)127 gezeigt haben. Gleichzeitig wird es darauf ankommen, europäische und internationale Rechtsentwicklungen, die beispielsweise auch im Kartell- und Datenschutzrecht zuletzt eine immer stärkere Rolle gespielt haben,128 nicht völlig aus dem Blick zu verlieren.