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Klärung einiger grundsätzlicher Fragen
Zitiervorschlag: Hartung, LR 2019, S. 106, [●], www.lrz.legal/2019S106
Legal Tech sollte inzwischen schon zum Alltag gehören, mindestens Einigkeit darüber bestehen, wovon die Rede ist. In letzter Zeit gab es aber viele Beiträge zu Legal Tech, insbesondere Stellungnahmen zur Reichweite der Tätigkeit bestimmter Legal Tech-Unternehmen, wobei man derweil den Eindruck gewinnt, dass es nicht besser, sondern chaotischer wird. Die Beiträge umfassen dabei jüngere Zitate aus Interviews mit Marktkennern, Stellungnahmen von Berufsverbänden, Meinungen von nicht zuständigen Ministergruppen zum Thema bis hin zu kompletten Gesetzesentwürfen und deren Begründung. Der Streit – wer darf was? – wird zudem derzeit vor verschiedenen Gerichten ausgetragen. In Berlin sind die Mietberufungskammern damit ausgelastet und vertreten konträre Auffassungen. Inzwischen liegt die Sache beim BGH, der im Oktober 2019 eine Entscheidung treffen soll. Vielleicht sind wir dann klüger, wer weiß. Der nachfolgende Beitrag versucht, etwas Ordnung in die wogende Debatte zu bringen.
Neue Technologien, Software insbesondere, durchlaufen nach dem sog. „Gartner-Hype Cycle“ bekanntlich fünf Phasen: Vom (1) Technologischen Auslöser über den (2) Gipfel der überzogenen Erwartungen tief hinab ins (3) Tal der Enttäuschungen, dann langsam über den (4) Pfad der Erleuchtung auf das (5) Plateau der Produktivität. Jeder wird die Kurve schon mindestens zwei Mal auf einer Slide eines Vortrags zu Legal Tech gesehen haben.
Wenn Sie jetzt einwenden, letztens hätte jemand von sieben Phasen gesprochen, nicht fünf, dann ging es da um die 7 Phasen der Veränderung, die man wiederum in jedem Vortrag zum Thema Change-Management geboten bekommt. Da kann man schon mal durcheinanderkommen. Aber: Hype = 5 Phasen, Change-Management = 7 Phasen. Beim Change-Management startet es alles mit einem Schock und einem gefühlten Kompetenzlevel nahe Null, und es endet nach einer (auch emotionalen) Serpentinenfahrt bei der Integration einer neuen Maßnahme. Da auf Konferenzen oft beides behandelt wird, also Legal Tech und Change-Management, kann es ganz schön kurvig zugehen. Mit Spannung zu erwarten ist dabei, ob auch eine Kombination beider Kurven gelingt, denn Legal Tech muss ja auch eingeführt werden, und das geht nicht ohne Change-Management.
Wo steht Legal Tech, bezogen auf den Hype Cycle? Vielleicht auf dem Weg ins Tal der Enttäuschungen. Keinesfalls schon auf dem Plateau der Produktivität, und nach Pfad der Erleuchtung klingt die bisherige Diskussion auch noch nicht.
Unmittelbar lässt sich der Gartner-Hype Cycle nicht auf Legal Tech anwenden, denn Legal Tech ist, unabhängig von der Unklarheit des Begriffs, nicht eine einzelne Software. Aber unabhängig davon: Würde man ihn anwenden, fragt man sich, ob der Gartner-Hype Cycle bei Legal Tech in Deutschland nicht um eine oder mehrere Phasen erweitert werden sollte. Betrachtet man nämlich die Diskussion zu Legal Tech inkl. Regulierung, dann scheinen Phasen wie „Im Dschungel der RDG-Definitionen“ oder „Im Tal der Sprüche“ zu passen.
Anlass zu Letzterem gibt u.a. ein Zitat des BRAK-Präsidenten, der unlängst meinte, dass überall da, wo Legal Tech draufstehe, Anwalt drinstecken müsse. Weiter dann die Bemerkung eines Experten, dessen Namen hier nichts zur Sache tut. Er kritisierte das Auseinanderfallen von Reden über Legal Tech und tatsächlicher Umsetzung und wurde dann wie folgt zitiert: „Wir sind in der Steinzeit des Legal Tech, es tauchen gerade die ersten intelligenten Wesen auf“. Helfen solche Bemerkungen weiter? Abgesehen von einer gewissen historischen Ungenauigkeit – die „Steinzeit“ begann vor rund 2,6 Mio. Jahren, die letzte Phase der Steinzeit, das Neolithikum (Übergang zu Ackerbau und Viehzucht, vor dem Übergang in die Bronzezeit) begann in Mitteleuropa ca. 5.600 Jahre v. Chr. – ist die Kombination von „Steinzeit“ mit „erste Entstehung der Intelligenz“ angesichts der Dauer der Steinzeit weder überzeugend noch richtig, sondern sorgt vielmehr nur für noch mehr Verwirrung in einer ohnehin schon verworrenen Diskussion. Offenbar geht ganz schön viel durcheinander, wenn über Legal Tech gesprochen wird.
Beginnen wir ganz vorne: Was ist Legal Tech? Vielleicht muss man das doch noch mal klären, denn manchmal bekommt man den Eindruck, Legal Tech werde ausschließlich als eine Art Beraterkategorie für Rechtsdienstleistungen angesehen, die entweder keine Erlaubnis nach dem Rechtsdienstleistungsgesetz (RDG) haben oder aber mit einer Erlaubnis Schindluder treiben. Dazu passt, am Rande bemerkt, ein veritabler Gutachterstreit in einem Rechtsstreit gegen einen bekannten deutschen Automobilhersteller zur Frage, was Inkassounternehmen dürfen. Aber das lassen wir mal links liegen, wg. Befangenheit des Autors und auch deshalb, weil es nur auf den ersten Blick etwas mit Legal Tech zu tun hat.
Legal Tech ist zunächst mal Tech, also Technology, vulgo Technik. Nicht mehr und nicht weniger. Die Besonderheit besteht darin, dass die schlichte Existenz dieser Technik lauter (gefühlte oder tatsächliche) Defizite in der Rechtspflege aufgedeckt hat. Möglicherweise waren es auch – umgekehrt – Defizite in der Rechtspflege, durch die findige Menschen motiviert wurden, Lösungen mit Hilfe neuartiger Technik zu erfinden. Vielleicht ist es auch die persönliche Unzulänglichkeit, die kreativ machen kann – die bekannte und sehr erfolgreiche App DoNotPay hatte Joshua Browder[1] nach eigenen Angaben deshalb entwickelt, weil er der vielen Knöllchen für sein eigenes falsches Parken nicht mehr Herr wurde und eine Lösung suchte, um sich dagegen zu wehren.
Während man jedenfalls zu Beginn noch mit der Definition durchkam, es gehe irgendwie um Jura und um Technik, hatte Micha-Manuel Bues den Bogen weiter gespannt: „Legal Tech beschreibt den Einsatz von modernen, computergestützten, digitalen Technologien, um Rechtsfindung, -anwendung, -zugang und -verwaltung durch Innovationen zu automatisieren, zu vereinfachen und – so die Hoffnung – zu verbessern.“ Kurz und knapp hingegen Martin Fries, wonach Legal Tech „Jura aus dem Automaten“ sei.
Beides beschreibt auch noch Technik, wenn auch differenzierter, und beide Definitionen bleiben nicht bei der Technik stehen. Aber dort steckt auch schon ein Keim des beginnenden Missverständnisses: Denn es geht bei Legal Tech offenbar um mehr als nur um die bloße Existenz innovativer Technologie.
Legal Tech hat dann zunächst, getreu dem Gartner-Hype Cycle, einen Hype ausgelöst und plötzlich war man umgeben von lauter Experten mit quartzgenauen Kristallkugeln über das, was wann passieren wird. Tatsächlich aber herrscht in der Anwaltschaft bis heute eine indifferente Stimmung vor, von eher verhaltenen/ablehnenden über zunächst mal abwartende bis zu sehr positiven Haltungen. Man kann es genauer verorten: die großen internationalen Kanzleien wenden innovative Technik nun schon selbstverständlicher an und sind aufgeschlossen, ebenso spezialisierte Kanzleien gleich welcher Größe – aber der große Teil der eher allgemein aufgestellten Anwaltschaft mit lokalem oder bestenfalls regionalem Markt und keiner klaren Strategie, also die General Practitioners des Rechtsmarktes, erleben das als Bedrohung ihrer angestammten Märkte.
Das ist nicht nur ein unbestimmtes Gefühl: Denn jedenfalls in der öffentlichen Wahrnehmung wird Legal Tech nicht in erster Linie von Anwälten angewendet, sondern von Dienstleistern, die mit Hilfe dieser Technik Angebote geschaffen haben, die wiederum den Verbraucherschutz in neue und ungeahnte Höhen geführt haben. Dass das nicht jedem Unternehmen gefällt, kann hier mal außen vor bleiben. Vielen Anwälten aber gefällt es deshalb nicht, weil diese Dienstleister auf dem Rechtsmarkt ernstzunehmende Konkurrenten geworden sind, wenn auch in ganz unterschiedlicher Weise und mit unterschiedlichen Auswirkungen, aber alles unter der Überschrift Legal Tech. Einige dieser Angebote gelten unter dem RDG als Rechtsdienstleistungen, andere nicht. Die Trennlinie ist unklar, die Rechtsprechung gespalten, höchstrichterliche Rechtsprechung fehlt noch.
Dieses Durcheinander, also das Amalgam aus Technik, Innovation, Rechtspflege-Defiziten, nicht-anwaltlichen Dienstleistern und besorgten Anwälten, zeigt sich gut in der folgenden Definition von Legal Tech:
"Legal Tech im Bereich des Verbraucherrechts beschreibt eine moderne Art der Rechtsdienstleistung. Neben der Verwendung digitaler Kommunikationsmittel besteht die größte Veränderung zu herkömmlichen Rechtsdienstleistungen in der Verwendung anderer Geschäftsmodelle wie z. B. der erfolgsabhängigen Vergütung der Rechtsdienstleistung. Dabei wird das Kostenrisiko auf Basis von Technologie und Daten eingeschätzt und vom Mandanten auf z. B. das Legal Tech-Unternehmen übertragen.“[2]
Das ist schon deutlich mehr als der schlichte Einsatz von Technik, denn hier geht es vielmehr um ganze und neuartige Geschäftsmodelle, die sich Technik zunutze machen, um andere Rechtsdienstleistungen anzubieten, oder um Rechtsdienstleistungen anders anzubieten. Hier liegt auch der Kern des regulatorischen Problems, denn schon der Verweis auf „erfolgsabhängige Vergütung“ macht deutlich, dass es um etwas geht, was Anwälte nicht dürfen, aber was von Verbrauchern (und Mandanten!) so begehrt ist, dass Anwälte wegen ihres berufsrechtlichen Umfelds ins Hintertreffen geraten.
Nun hat sich die Politik eingemischt: Die FDP-Bundestagsfraktion präsentierte einen Gesetzgebungsvorschlag, der sowohl das RDG wie auch die BRAO an zentralen Stellen sehr tiefgreifend ändern sollte. „Automatisierte Dienstleistungen“ sollen künftig zugelassen, das Verbot anwaltlicher Erfolgshonorare sowie das sog. Provisionsverbot für die Vermittlung von Mandanten und Mandaten abgeschafft werden. Letzteres sind schon tragende Wände der anwaltlichen Verteidigungsanlagen gegen die kommerzialisierte Welt, und die ersten Reaktionen waren wie erwartet. Der – Reformen eigentlich wohlgesonnene – Bundesverband Deutsche Startups (BVDS), der im November 2018 eine eigene Stellungnahme zur Reform des RDG veröffentlicht hatte, kritisierte den unklaren Begriff der „automatisierten Rechtsdienstleistungen“. Der DAV sperrt sich gegen die Zulassung weiterer Rechtsdienstleister, denn Rechtsberatung sei Anwaltssache. Die JuMiKo (Konferenz der Landesjustizminister) verkündete, Legal Tech sei eine gute, aber doch eigentlich den Anwälten überlassene Sache, und wenn es da im anwaltlichen Berufsrecht hinderliche Themen gäbe, dann könnte man doch vielleicht mal überlegen, ob man nicht dort etwas tun müsste (nota bene: Die Landesjustizminister waren hier nicht zufällig so ungenau, sondern sind weder für Änderungen der BRAO noch des RDG zuständig). Der DAV wiederum stimmte der JuMiKo grundsätzlich zu, verwahrte sich aber gegen Änderungen am Berufsrecht. Vom Präsidenten der BRAK hieß es, dass überall, „wo Legal Tech drauf steht, (...) auch Anwalt drinstecken“ müsse. Man braucht ein bisschen, um aus dem Staunen wieder herauszukommen, denkt gleich an den „mechanical turk“[3] und fragt sich, was wohl die BRAK unter Legal Tech versteht. Hinzu kommt, dass der Vorsitzende des RDG-Ausschusses der BRAK vor gar nicht langer Zeit etwas vorgeschlagen hatte, was mit dem FDP-Vorschlag zwar nicht verschwistert, aber doch entfernt verwandt war.
Da stehen wir nun und wissen nicht weiter. Was es ist, ist unklar, und ob es verboten ist, weiß auch niemand. Vielleicht kann man mal etwas sortieren:
Das ist zur Diskussion zu sagen. Offen bleibt die Frage: Wird Legal Tech eigentlich schon angewendet? Die Antwort ist: Ja. Flächendeckend? Nein. Wie umfangreich? Wir wissen es nicht genau und haben keine brauchbaren empirischen Daten. Allerdings setzen große Wirtschaftskanzleien schon seit längerer Zeit innovative Software ein. Das gilt auch und umso mehr für die Big4. Dass sie im Kern schon in der digitalen Zukunft leben, kann man nicht sagen. Aber grundsätzlich gibt es bei den wirtschaftsberatenden Kanzleien genügend Ressourcen und kaum Berührungsängste.
In der Breite der Anwaltschaft ist das anders. Das liegt nicht nur an der wahrgenommenen Unbeweglichkeit der Anwaltschaft, sondern auch daran, dass es für die meisten anwaltlichen Tätigkeiten noch keine passenden Angebote gibt. Eigene Entwicklungen sind teuer und bedeuten ein erhebliches unternehmerisches Risiko. Für bestimmte Verbraucheransprüche gibt es aber bereits zahlreiche technische Angebote, die jedoch von Rechtsdienstleistern wie Flightright, Mietright oder Myright herrühren.
Man sollte sich von der BGH-Entscheidung nicht zu viel versprechen, denn sie wird nicht das ganze Legal Tech-Thema behandeln, sondern nur einen Teilaspekt. Danach wird man Geschäftsmodelle um die Entscheidung herum gestalten. Das eigentliche Problem wird sich dadurch nicht in Luft auflösen. Die Frage lautet eher, ob man nicht-anwaltlichen Dienstleistern mehr gestatten will als heute, und zwar unabhängig davon, ob sie Technik verwenden oder nicht. Es geht also um die Balance zwischen der Anwaltschaft und dem heutigen Zuschnitt des Beratungsmonopols einerseits und Verbraucherbelangen andererseits, die wiederum durch die traditionellen Anwaltsangebote – jedenfalls gefühlt – nicht angemessen befriedigt werden. Das ist eine rechtspolitische Frage, keine Frage für die Rechtsprechung.
Mit Legal Tech hat das alles nur mittelbar zu tun, denn die Digitalisierung der juristischen Tätigkeit (mit allen ihren Folgen) findet ganz unabhängig davon statt, und die Frage der Neuvermessung des Verhältnisses von Anwälten zu Rechtsdienstleistern stellt sich wiederum losgelöst von der weiteren Entwicklung von Legal Tech.
Und was ist jetzt Legal Tech? Inzwischen gibt es so viele Definitionen, dass man droht, den Überblick zu verlieren. Alle haben irgendwie auch etwas für sich. Wir sollten uns aber nicht im „Dschungel der Definitionen“ verirren und verlieren. Am einfachsten ist die Erkenntnis, dass Legal Tech ein Phänomen ist und als Begriff für die Digitalisierung oder die digitale Transformation der Rechtspflege steht.
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Joshua_Browder.
[2] Marco Klock, dieses und alle anderen Zitate bei https://www.legal-tech.de/was-ist-legal-tech-ffi/.
[3] https://en.wikipedia.org/wiki/The_Turk.
[4] dazu Hartung, LR 2018, S. 137 ff.
[5] Nachweise bei Remmertz, LR 2018, S. 163 ff.
[6] Hartung, AnwBl Online 2019, S. 353 ff.