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Zitiervorschlag: Reuß/Templeton, LRZ 2023, Rn. 417, [●], www.lrz.legal/2023Rn417.

Permanente Kurz-URL: LRZ.legal/2023Rn417

An der Universität Göttingen wurde eine auf die Inhalte der Vorlesung „Grundkurs Zivilrecht I und II“ abgestimmte Webanwendung entwickelt, welche die juristische Falllösungstechnik auch jenseits der präsentischen Lehrveranstaltung bewusst schult. Durch Einbindung digitaler Unterstützungsfunktionen und „Blended Learning“-Elementen wird das interaktive Falltraining („FALLi“) mit bestehenden klassischen Vorlesungsinhalten verknüpft.

1. Einleitung

Die juristische Ausbildung ist in den letzten Jahren immer stärker um digitale Elemente erweitert worden. Dazu zählt nicht nur das Online-Stellen aller Vorlesungsmaterialien (begleitende Skripte, Prüfungsschemata, Folien etc.), sondern auch immer häufiger die Digitalisierung klassischer Lehrelemente wie die Aufzeichnung von Vorlesungen, das Zurverfügungstellen entsprechender Aufzeichnung zu Wiederholungszwecken oder sogar die Etablierung  hybrider Vorlesungskonzepte mit Videokonferenz- und Präsenzelementen bzw. die Kombination von digitalen Lehrelementen (vorbereitende Videos etc.) mit präsentischer Lehre (sog. Blended Learning).

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Diese Entwicklung wurde insbesondere durch die Corona-Pandemie und die damit einhergehende Unmöglichkeit präsentischer Lehre begünstigt. Blickt man auf den gegenwärtigen Stand der Lehre, fällt auf, dass Lehre zwar digitaler geworden ist; oftmals verfolgen diese digitalen Lehrelemente allerdings kein ganzheitliches Konzept und stehen selbstständig und ohne nähere Integration nebeneinander.

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An dieser Stelle soll das interaktive Falltraining FALLi1 ansetzen. Es wurde von den Verfassern dieses Beitrags an der Universität Göttingen entwickelt. Primäres Ziel ist es, die besonders für Studienanfängerinnen und -anfänger schwierige juristische Falllösetechnik zu schulen und über die Verwendung eines übergreifenden Lehrkonzeptes zum vernetzten Lernen (Interconnected Learning) abstrakte Stoffvermittlung und konkrete Anwendung gelernten Wissens auf neuartige Weise an einem Ort zu verknüpfen. Zum Einsatz kommen hierbei sowohl digitale als auch präsentische Elemente im Rahmen eines „Blended Learning“-Konzepts. FALLi ist in die Anfängervorlesung „Grundkurs Zivilrecht I und II“ eingebettet, für Nutzerinnen und Nutzer kostenlos und frei im Internet zugänglich. Auch die eingebetteten Materialien sind frei zugänglich.

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2. Wissenschaftlicher Hintergrund

Bereits seit langem ist in der Didaktik2 die Lernmethode des vernetzten Lernens anerkannt und etabliert.3 Sie basiert auf dem Konzept, dass sich neue Informationen im Gehirn leichter speichern lassen, wenn diese mit bereits bestehendem Wissen verknüpft werden.4 Besonders am Beginn des Studiums, an dem in sehr kurzer Zeit viel Neues vermittelt wird, ist es wichtig, dass Studierende stets erkennen können, an welcher Stelle sich das neu Erlernte in das Gesamtkonzept der Ausbildung einfügt.

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Im Rahmen der Fallbearbeitung bedeutet dies, dass an den entscheidenden Stellen, an denen von den Bearbeiterinnen und Bearbeitern vertieftes Wissen abgefragt wird, sich dieses Wissen aus dem Lehrkonzept herleiten lässt.

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FALLi soll das eigenständige Lernen und auch Vertiefen von Inhalten mittels eines Lehrbuches nicht ersetzen. Es soll allerdings die Gesamtstruktur verdeutlichen und den Zusammenhang zwischen den einzelnen Elementen der Lehre in Form der klassischen Vorlesung als Wissensvermittlung und der Falllösung als Wissensanwendung aufzeigen.

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3. Elemente des interaktiven Falltrainings

FALLi stellt ein speziell entwickeltes und auf die Inhalte der Vorlesung „Grundkurs Zivilrecht I und II“ abgestimmtes digitales Falltraining dar, das die juristische Falllösungstechnik auch jenseits der präsentischen Lehrveranstaltung bewusst schult. Für Studierende in den Anfangssemestern schwer fassbare und anspruchsvolle Elemente juristischer Methodik wie der juristische Gutachtenstil, die richtige Strukturierung juristischer Falllösungen oder der Umgang mit alternativen Lösungsmöglichkeiten (Klausurtaktik) können auf der Plattform interaktiv erlernt, wiederholt und vertieft werden. Hierzu tragen Elemente abstrakter Wissensvermittlung wie Vorlesungspodcasts, Schemata und Lernvideos bei, die an geeigneter Stelle der Falllösung abrufbar sind. Studierende können so an der relevanten Stelle des Falls abstraktes Wissen wiederholen und vertiefen. So lässt sich auf einzigartige und in der juristischen Ausbildung bislang nicht vorhandene Weise eine ganzheitliche und auf die Bedürfnisse der Studierenden abgestimmte Lehr- und Lernerfahrung schaffen, die zeitlich und räumlich flexibles sowie barrierefreies Lernen von zu Hause ermöglicht. Konkret beinhaltet FALLifolgende Elemente:

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3.1. Übersicht

Der Einstieg in das Falltraining erfolgt über eine Übersichtseite, auf der sich die jeweiligen Lehrschwerpunkte und digitalen Elemente der einzelnen Fälle anzeigen lassen. So können die gewünschten Lerninhalte gezielt ausgewählt und vertieft werden.

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Nach Auswahl des jeweiligen Falles startet das eigentliche Falltraining. Der Aufbau orientiert sich dabei an der klassischen Fallbearbeitung mit Sachverhalt, Fallskizze und Lösungsvorschlag. In jedem der einzelnen Elemente können nach Wusch spezielle digitale Lernhilfen eingeblendet werden.

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3.2. Sachverhalt

Die Darstellung des Sachverhalts eines Falls unterscheidet sich prinzipiell nicht von anderen, herkömmlichen Fall-Plattformen. Besonders ist jedoch, dass sich per Klick über eine Textmarker-Funktion die für die Lösung relevanten Stellen des Sachverhalts farblich markieren lassen. Damit wird Studierenden visuell aufgezeigt, welche Passagen des Sachverhalts tatsächlich rechtlich relevant sind, und welche Passagen lediglich irrelevantes Beiwerk darstellen und somit für die Fallbearbeitung außer Acht gelassen werden können. Somit wird visualisiert, wie sich Wesentliches von Unwesentlichem trennen lässt.

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Über die genannte Textmarker-Funktion lassen sich ferner – farblich von den für die Fallbearbeitung relevanten Textpassagen abgesetzt – auch andere in anderen Konstellationen potentiell rechtlich relevante Passagen visualisieren. Somit lässt sich über den konkreten Fall hinaus ein Problembewusstsein für Studierende schaffen, welche Elemente eines Sachverhalts rechtlich relevanten Inhalt beinhalten können.

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Dies trainiert die Analyse des Sachverhalts und soll besonders den Studienanfängerinnen und -anfängern aufzeigen, wie sich entscheidende für die Falllösung relevante Stellen im Sachverhalt erkennen lassen.

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3.3. Fallskizze

FALLi verfügt ferner über eine detaillierte Fallskizze. Diese veranschaulicht den Sachverhalt des jeweiligen Falles anhand graphischer Darstellung und fasst diesen kurz zusammen. Auf jedem Schaubild können die Kernaussagen des Sachverhalts, seinem chronischen Ablauf folgend, eingeblendet werden. Die juristische Darstellung des Sachverhalts endet mit einer vollständigen Fallskizze, welche über die einzelnen Bilder entwickelt wird.

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Damit soll das juristische Verständnis und die Übertragung des Sachverhaltes in ein rechtliches Prüfungsschema verdeutlicht und geschult werden. Die Fallskizze und Chronik lassen sich ebenfalls im Rahmen der Lösung jederzeit einblenden.

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3.4. Lösungsvorschlag

Die Lösungsskizze stellt das zentrale Element des Falltrainings dar.

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3.4.1. Seitenleiste

Neben der Lösung lässt sich jederzeit eine Seitenleiste einblenden, in der zwischen der Gliederung, der Fallskizze mit Chronik und einer Übersicht über die verwendeten „Blended Learning“-Elemente gewechselt werden kann.

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Dies gewährleistet, während der Fallbearbeitung immer einen Überblick über den Fall zu behalten.

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3.4.2. Graue Hinweiskästen

Mittels einblendbarer Boxen im bekannten Stil der „grauen Kästen“ finden die Bearbeiterinnen und Bearbeiter zusätzliche Hinweise und Anmerkungen, welche die Lösung verständlicher machen und dabei helfen sollen, die juristische Lösung in das Konzept der juristischen Arbeitsweise einzubetten.

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Neben Ausführungen zum Lösungsweg können hier auch Ergänzungen und Weiterführungen eingefügt werden, um den Fall in das Gesamtkonzept der juristischen Problemfelder einzuordnen.

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3.4.3. Fußnoten und Fachbegriffe

Die Falllösung beinhaltet besonders an den problematischen Stellen verstärkt Fußnoten, die per Klick angezeigt werden. Die dezente Darstellung soll den Lese- und Lernfluss nicht behindern, jedoch trotzdem die Möglichkeit geben, juristische Sekundärliteratur zu verwenden und deren Einsatz nachvollziehen zu können. Zusätzlich dienen die Verweise der möglichen Vertiefung des Fallproblems.

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Juristische Fachbegriffe, insbesondere lateinische Wendungen, werden im Text farblich markiert und können auf Klick mit einer kurzen Erklärung eingeblendet werden. Dies ermöglicht es insbesondere Studienanfängerinnen und -anfängern, diese zentralen Begriffe zu wiederholen und zu vertiefen. Open Access Quellen sind im Volltext verlinkt, was den Zugang zu diesen Materialien erleichtert. Dies gilt besonders für relevante Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs.

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3.4.4. Gutachtenstil

Der für die Falllösung essenzielle Gutachtenstil, ein Kernelement juristischer Methodik, kann per Klick eingeblendet und so veranschaulicht werden. Die einzelnen Elemente des Gutachtenstils sind farblich unterschiedlich und unterstützen besonders Studienanfängerinnen und -anfänger beim Erlernen einer sauberen Arbeitsweise und Methodik. Dabei werden die Fälle nicht unnötig in das starre Gutachtenschema gezwängt. Kurzes und Unproblematisches wird ein einem verkürzten Gutachtenstil zusammengefasst. Studierende werden hierdurch auch in taktischen Überlegungen insbesondere im Hinblick auf ein ausgewogenes Zeitmanagement geschult.

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3.4.5. Blended-Learning-Elemente

Zentrales weiteres Element neben der Funktion zur Visualisierung des Gutachtenstils sind die in die Falllösung direkt eingefügten „Blended Learning“-Elemente zum vernetzten Lernen.

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Diese sollen an den Lernschwerpunkten des jeweiligen Falles zusätzliche Lehrelemente aus dem Lehrgesamtkonzept einfügen. Jeder Fall verlinkt direkt die entsprechende(n) Folge(n) der Vorlesungen als Podcast, sodass die abstrakten Lerninhalte der Vorlesung nochmals wiederholt werden können. Dazu kommen zu ausgewählten Problemen speziell produzierte Kurzvideos, die einzelne Aspekte der Falllösung nochmals differenziert betrachten und anhand anschaulicher Beispiele prägnant erläutern. An den kritischen Stellen des Aufbaus können Prüfungsschemata und an den problematischen Stellen tiefergehende Ausschnitte aus den Vorlesungsskripten eingeblendet werden.

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3.4.6. Alternativer Lösungsweg

Bei geeigneten Fällen wird zudem über ein Visualisierungstool ein in die Falllösung integrierter alternativer Lösungsweg angeboten. An entsprechenden Weichenstellungen kann neben dem üblichen, empfohlenen Lösungsweg auf einen alternativen Lösungsweg gewechselt werden. Eine entsprechende Anzeige markiert stetig den jeweils gewählten Lösungsweg und mittels Klicks oder Wisch kann jederzeit zwischen den beiden Wegen gewechselt werden.

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Dies soll den Bearbeiterinnen und Bearbeitern aufzeigen, dass je nach Argumentation auch andere Ansichten vertretbar sind und wie sich diese Abweichungen auf den weiteren Lösungsweg und das Ergebnis des Falles auswirken. Klausurtaktische Überlegungen lassen sich hier besonders gut anstellen und die Entscheidung für oder wider eine bestimmte Ansicht lässt sich auch mit Blick auf wegfallende aber im Sachverhalt angelegte Probleme besser beurteilen.

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4. Ausblick

FALLi ist im Wintersemester 2022/23 online gegangen und beinhaltet derzeit ein komplettes Fallprogramm zum Allgemeinen Teil des BGB. Für den weiteren Ausbau ist geplant, das Fallprogramm entsprechend der juristischen Grundausbildung um Fälle aus dem Schuldrecht-AT und Schuldrecht-BT zu erweitern.

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Zusätzlich soll das Training um eine zentrale Lernplattform erweitert werden, welche alle „Blended Learning“-Elemente übersichtlich darstellt. Dies soll eine Anknüpfung an die gewünschten Lerninhalte von allen Seiten ermöglichen, sodass die Studierenden gezielt dort ansetzen können, wo noch Schwierigkeiten bestehen.

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Lernzielkontrollen am Ende der jeweiligen Fälle (Quiz, Verständnisfragen) sollen überprüfen, ob die notwendigen Inhalte richtig aufgenommen wurden und das neue Wissen angewandt werden kann.

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Schließlich sollen Klausur- und Lerntipps von erfahrenen Juristinnen und Juristen einen Einblick in erprobte Methodiken geben und insbesondere bei Studienanfängerinnen und -anfängern Orientierungslosigkeit und Ängste reduzieren.

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Insgesamt soll mit dem Interaktiven Falltraining FALLi der didaktische Ansatz des vernetzten Lernens stetig weiter ausgebaut werden und als Beispiel für moderne Rechtsdidaktik dienen.

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1 falli.eu.

2 Eine Übersicht über didaktische Lerntheorien findet sich bei Eickelberg, Didaktik für Juristen, 2018, 8ff.

3 Zu Beispielen siehe: Mayrberger/Fromme/Grell/Hug, Editorial. Digital und vernetzt: Lernen heute in Mayrberger et al. (Hrsg.), Jahrbuch Medienpädagogik 13 (2016) 7ff.; Enache, Blended Learning Platforms, 26 Annals of “Dunarea de Jos” University of Galati Fascicle I. Economics and Applied Informatics (2021) 118ff.; Van der Stap, Ensuring Effective Flexible Learning through Blended Learning, Journal of Systemics, 15 Cybernetics and Informatics (2017) 7ff.

4 Zu kongitivistischen Lerntheorien und deren Vertretern eingehend Eickelberg, Didaktik für Juristen, 2018, 10.

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