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Zitiervorschlag: Nieland, LRZ 2022, Rn. 656, [●], www.lrz.legal/2022Rn656.

Permanente Kurz-URL: LRZ.legal/2022Rn656

Der EuGH hat das Tor geöffnet, die Instanzenrechtsprechung folgt: Das Haftungsrisiko der großen sozialen Netzwerke für Wiederholungsverstöße ihrer Nutzer ist nach der jüngeren Rechtsprechung erheblich gestiegen.

1. Einführung

Soziale Netzwerke wie Facebook oder Instagram genießen das Hostprovider-Privileg. Sie sind grundsätzlich nicht verpflichtet, die von ihren Nutzern gespeicherten Informationen zu überwachen oder nach Umständen zu forschen, die auf eine rechtswidrige Tätigkeit hinweisen. Erst wenn sie Kenntnis von der Rechtsverletzung erhalten, haben sie unverzüglich zu reagieren und die Information zu entfernen (sog. „Notice and Take down“-Verfahren).1 Soweit der Regelfall.

Rn656

Was passiert jedoch, wenn sich eine Rechtsverletzung, die gerichtlich festgestellt wurde, wiederholt? Kann gegen den Betreiber des sozialen Netzwerks bei der üblichen viralen Weiterverbreitung nun direkt die Zwangsvollstreckung aus einem Unterlassungstitel betrieben werden, und zwar auch bei ähnlichen Rechtsverletzungen? Oder muss erneut das Notice and Take down-Verfahren durchlaufen werden – für jeden Einzelfall? Hier trifft das Hostprovider-Privileg auf die Kerntheorie, die den gerichtlichen Verbotstenor eben nicht nur auf identische, sondern auch auf „kerngleiche“ Verletzungshandlungen erstreckt. 

Rn657

Relevant wird diese Frage insbesondere bei rechtswidrigen Wort-Bild-Kombinationen. Dabei kann es sich z.B. um sog. „Fake-Accounts“ handeln, die eine fremde Identität vorspiegeln2. Oder es geht um Memes, bei denen Personenbildnisse aus dem ursprünglichen Kontext gerissen und mit einer Textzeile versehen werden, z.B. als Kommentar zu dieser Person oder als Zitat der Person.3 Ob eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts vorliegt, ist äußerungsrechtlich regelmäßig durch Interessenabwägung im jeweiligen Kontext zu ermitteln.4 Erforderlich ist also eine Bewertungsentscheidung. Diese scheint vordergründig mit den Bedürfnissen des Plattformbetreibers zu kollidieren, Wiederholungsverstöße in seinem sozialen Netzwerk allein mit technischen Hilfsmitteln zu ermitteln, also vollautomatisiert. 

Rn658

2. Zum Umfang der Haftungsprivilegierung (§§ 7 Abs. 2, 10 TMG)

Bisweilen wird argumentiert, dass die Erstreckung des Unterlassungstenors auf Kernverstöße gegen die Haftungsprivilegierung für Host-Provider aus § 7 Abs. 2 TMG (Art. 15 ECRL) verstoßen würde, da ihnen auch hinsichtlich Wiederholungsverstößen keine allgemeinen Prüfungspflichten auferlegt werden dürften. Dies ist in der Pauschalität unzutreffend. 

Rn659

2.1. Störerhaftung

Grundsätzlich gilt für die sozialen Netzwerke als Hostprovider das Konzept der Störerhaftung. Der Störer haftet – in Abgrenzung zum Täter oder Teilnehmer einer Rechtsverletzung – seinerseits nur bei der Verletzung zumutbarer Prüfungspflichten.5 Nach § 7 Abs. 2 TMG (Art. 15 ECRL) trifft den Hostprovider für gespeicherte Fremd-Informationen insoweit zwar keine allgemeine bzw. „proaktive“ Prüfungspflicht. Er muss den gespeicherten Fremdcontent also weder im Sinne einer Vorab-Kontrolle überwachen, noch nach Umständen forschen, die auf eine rechtswidrige Tätigkeit hinweisen. Nicht ausgeschlossen sind nach heute gefestigter Rechtsprechung jedoch Überwachungspflichten „in spezifischen Fällen“6. So müssen Diensteanbieter, die von Nutzern bereitgestellte Informationen speichern, die nach vernünftigem Ermessen von ihnen zu erwartende und in innerstaatlichen Rechtsvorschriften niedergelegte Sorgfalt aufwenden, um bestimmte Arten rechtswidriger Tätigkeiten aufzudecken und zu verhindern7.

Rn660

2.2. Vorsorgepflichten

Insbesondere muss ein Diensteanbieter, der auf eine klare Rechtsverletzung hingewiesen worden ist, nach den Grundsätzen der Rechtsprechung des EuGH und des BGH nicht nur das konkrete Angebot unverzüglich sperren, sondern tatsächlich auch Vorsorge treffen, dass es möglichst nicht zu weiteren derartigen Schutzrechtsverletzungen kommt. Ihn trifft die – durch einen Unterlassungsanspruch durchsetzbare – Verpflichtung, zukünftig derartige Verletzungen zu verhindern. 8

Rn661

Der Umfang dieser spezifischen, anlassbezogenen Prüfungspflicht (Vorsorgepflicht nach Verstoß) bestimmt sich danach, inwieweit dem Störer nach den Umständen des Einzelfalls eine Verhinderung der Verletzungshandlung zuzumuten ist.9 Eine Haftung ist nur dann ausgeschlossen, wenn der Hostprovider alles technisch und wirtschaftlich Zumutbare unternommen hat, um weitere Rechtsverletzungen zu verhindern.10

Rn662

3. Kerntheorie und Reichweite des Unterlassungstenors

Die grundsätzliche Haftungsprivilegierung des Hostproviders steht im Spannungsverhältnis zur Kerntheorie. Danach erfasst der tenorierte Unterlassungsanspruch eben nicht nur die konkret untersagte Rechtsverletzung und ihre vollidentische Wiederholung („konkrete Verletzungsform“), sondern auch „Abwandlungen, in denen das Charakteristische der konkreten Verletzungsform zum Ausdruck kommt“11, also auch solche Rechtsverletzungen, die ihrem Wesen nach gleich sind („kerngleich“). Gegen kerngleiche Rechtsverletzungen muss daher kein weiterer Titel erwirkt werden, sondern es kann aus dem bereits bestehenden Titel unmittelbar vollstreckt werden (§ 890 ZPO). 

Rn663

Sinn und Zweck der Kerntheorie ist es, Umgehungsversuche des Unterlassungsschuldners zu verhindern. Der Schuldner soll sich nicht durch einfache Abwandlungen dem gerichtlichen Verbot entziehen können.12 Voraussetzung dafür, dass ein Ordnungsmittel verhängt werden kann, ist es jedoch, dass die kerngleichen Verletzungshandlungen bereits in das Erkenntnisverfahren einbezogen wurden. Das rechtlich Charakteristische der konkreten Verletzungsform, das für die Bestimmung des Kerns der verbotenen Handlung und die Reichweite des Vollstreckungstitels maßgeblich ist, ist auf die Schutzrechte beschränkt, die Prüfungsgegenstand im Erkenntnisverfahren gewesen waren.13 Frage des Einzelfalles ist es nun, worin der Kern der Verletzungshandlung zu sehen ist und welches Schutzrecht im jeweiligen Erkenntnisverfahren geltend gemacht wurde.

Rn664

4. Kernverstöße und Vorsorgepflichten in sozialen Netzwerken

Zwei Gerichtsentscheidungen haben das Spannungsfeld zwischen Hostprovider-Privileg und Kerntheorie in jüngerer Zeit näher beleuchtet. Die darin enthaltenen Überlegungen dürften künftige (Ordnungsmittel-)Verfahren gegen die führenden Betreiber sozialer Netzwerke entscheidend prägen: 

Rn665

4.1. EuGH zu kerngleichen Äußerungen

Der EuGH14 hatte in der vielbeachteten Rechtssache Glawischnig-Piesczek ./. Facebook Ireland Ltd. über die Frage kerngleicher Äußerungen zu entscheiden. Die österreichische Politikerin Eva Glawischnig-Piesczek war in einem Facebook-Posting unter Beifügung eines Fotos u.a. als „miese Volksverräterin“ und „Trampel“ bezeichnet worden.15 Das soziale Medium wurde daraufhin per einstweiliger Verfügung verpflichtet, es „zu unterlassen, die Klägerin des Ausgangsverfahrens zeigende Lichtbilder zu verbreiten, wenn im Begleittext die wörtlichen und/oder sinngleichen Behauptungen wie in dem betreffenden Kommentar verbreitet werden.“ Diese Tenorierung im Sinne der Kerntheorie führte zum Vorlageverfahren. Der EuGH hat im österreichischen Verbot kerngleicher Rechtsverletzungen nach erfolgtem Erstverstoß (und den daraus resultierenden spezifischen Vorsorge- und Überwachungspflichten) ausdrücklich keinen Verstoß gegen Art. 15 Abs. 1 ECRL gesehen. So heißt es im Leitsatz und in Rn. 53 des Urteils, dass das Verbot allgemeiner Überwachungspflichten aus Art. 15 Abs. 1 ECRL
„es einem Gericht eines Mitgliedstaates nicht verwehrt, einem Hosting-Anbieter aufzugeben, die von ihm gespeicherten Informationen, die einen sinngleichen Inhalt haben wie Informationen, die zuvor für rechtswidrig erklärt worden sind, zu entfernen oder den Zugang zu ihnen zu sperren, sofern die Überwachung und das Nachforschen der von einer solchen Verfügung betroffenen Informationen auf solche beschränkt sind, die eine Aussage vermitteln, deren Inhalt im Vergleich zu dem Inhalt, der zur Feststellung der Rechtswidrigkeit geführt hat, im Wesentlichen unverändert geblieben ist, und die die Einzelheiten umfassen, die in der Verfügung genau bezeichnet worden sind (…).“

Rn666

Der EuGH geht mit seinen Feststellungen zu „sinngleichen Inhalten“ deutlich über die Empfehlung des Generalanwaltes hinaus. Dieser hatte eine Beschränkung auf sinngleiche Informationen empfohlen, die von demselben Nutzer herrühren. 16 Im Urteil des Gerichtshofs findet sich hierzu nichts. 

Rn667

Der EuGH macht zwar die Einschränkung, dass die Beurteilung des sinngleichen Inhalts nicht so geartet sein darf, dass sie den Host-Provider zwingen, eine „autonome Beurteilung“ dies Inhalts vorzunehmen17, sondern er „auf automatisierte Techniken und Mittel zurückgreifen kann.“ 18 Offen bleibt allerdings, ob die Vorsorgepflichten nach der EuGH-Linie bereits dort enden sollen, wo in irgendeiner Form eine menschliche Bewertungsentscheidung erforderlich ist. Die Entscheidung in Sachen Glawischnig-Piesczek spricht dagegen. Denn gerade im Bereich sinngleicher Äußerungen ist die Variantenbreite der Kernverstöße hoch und diese zudem kontextabhängig. Gleichwohl hält der EuGH gerade in der Rechtssache Glawischnig-Piesczek fest, dass der „diffamierende Inhalt sinngleicher Art, den Hosting-Anbieter nicht verpflichtet, eine autonome Beurteilung vorzunehmen, so dass er auf automatisierte Techniken und Mittel zurückgreifen kann.“ 19 Der Rückgriff auf die „automatisierten Techniken“ kann vor diesem Hintergrund nicht als conditio sine qua non verstanden werden, sondern nur als Hilfsmittel. 

Rn668

Die vom EuGH gezogenen Grenzen für kerngleiche Verstöße und korrespondierende Vorsorgepflichten sind in der Tat weich: Neben der besagten Möglichkeit, auf technische Hilfsmittel wie Wortlaut- oder Bildfilter zurückgreifen zu können, sollen die sinngleichen Informationen lediglich den Namen der betroffenen Person enthalten, und die Umstände der Rechtsverletzung sollen vom Erstgericht bereits identifiziert worden sein.20 In diesen Vorgaben liegt aus Sicht des Gerichtshofs keine Bevorzugung des Betroffenen, sondern sie stellen bereits den Ausgleich des Interessenkonflikts dar.21 In welcher Form die Instanzgerichte die Vorgaben des Gerichtshofs nun ausfüllen und konkretisieren werden, dürfte also interessant werden. 

Rn669

4.2. LG Frankfurt/M. zu kerngleichen Memes

Im Einklang mit der zitierten EuGH-Rechtsprechung steht die Entscheidung des Landgerichts Frankfurt/M. 22, das über eine Wort-Bild-Kombination („Meme“) zu befinden hatte, welche die Politikerin Renate Künast betraf. Unter Verwendung ihres Namens und Bildnisses wurde ihr auf Facebook das Zitat unterstellt: „Integration fängt damit an, dass Sie als Deutscher erstmal türkisch lernen!“ Das hatte sie nie gesagt. Das Landgericht entschied, dass nicht nur das Meme mit dem Falschzitat, sondern zudem auch sämtliche kerngleiche Varianten zu löschen seien. Das Landgericht Frankfurt/M. sieht die Vorsorge gegenüber kerngleichen Verstößen also ebenfalls nicht als wirtschaftlich oder technisch unzumutbar an und erkennt insoweit keinen Verstoß gegen das Hostprovider-Privileg. Vier Gesichtspunkte sind aus der Begründung hervorzuheben:

Rn670

4.2.1. Zumutbarkeit betrifft nur die Identifizierbarkeit

Die wirtschaftlich-technische Zumutbarkeit der Vorsorgepflicht soll nach dem LG Frankfurt/M. nur die Identifizierung möglicher Kernverstöße („Kandidaten“) betreffen, nicht hingegen die nachgelagerte (rechtliche) Bewertungsentscheidung, ob ein solcher „Kandidat“ im Einzelfall als rechtswidrig oder rechtmäßig anzusehen ist. An der Zumutbarkeit dieser nachgeordneten „menschlichen Moderationsentscheidung“ hat das Landgericht Frankfurt keinen Zweifel. Dies überrascht, ist bei näherer Betrachtung aber konsequent: Denn die Plattformbetreiberin befinde sich, so das Landgericht, in keiner anderen Situation, als wenn ein Nutzer ihr eine Rechtsverletzung gemeldet hätte. Auch in jenem Fall müsse sie mittels menschlicher Moderationsentscheidung selbst feststellen, ob die gemeldete Rechtsverletzung zu einer Sperrung führe oder nicht. Der einzige Unterschied sei, dass es nicht mehr dem Betroffenen aufgebürdet sei, die „Kandidaten“ der menschlichen Moderationsentscheidung zu melden, sondern die Plattformbetreiberin diese mittels der Bilderkennungsverfahren selbst filtere.23 Eines Hinweises des Betroffenen auf die jeweilige URL der kerngleichen Memes bedürfe es daher nicht.24

Rn671

4.2.2. Technische Filter 

Keine entscheidende Rolle spielte im Streitfall die Frage, ob Facebook tatsächlich die technischen Möglichkeiten hatte, Wiederholungsverstöße mittels automatisierter Verfahren (Bilderkennung, Wortfilter etc.) zu identifizieren. Auch dies überrascht zunächst. Doch bezeichnenderweise hatte die Betreiberin des sozialen Netzwerks hierzu laut Urteilsbegründung nicht näher vorgetragen, sondern nur die „rechtliche Unzumutbarkeit“ thematisiert.25 Tatsächlich dürften ausreichende Filtersoftware und -verfahren bei den führenden sozialen Netzwerken daher wohl zu unterstellen sein. Ganz anders kann es ggf. bei den Betreibern kleinerer Foren und Blogs sein, gerade auch unter wirtschaftlichen Aspekten. 

Rn672

4.2.3. Kernverstoß als Gegenstand des Erkenntnisverfahrens 

Die weitere Voraussetzung, dass die kerngleichen Verletzungshandlungen bereits Gegenstand des Erkenntnisverfahrens gewesen sein müssen, bejaht das Landgericht im Streitfall ebenfalls. Kern des Verbots sei das Verbreiten des bekannten Falschzitats und damit der Schutz der Klägerin vor entstellten Wiedergaben einer Äußerung. Kerngleiche Verletzungshandlungen im Hinblick auf dieses Schutzrecht seien daher sämtliche Memes, die (ebenfalls) den falschen Eindruck erwecken, die zitierte Äußerung stamme von der Klägerin. Memes, die diesen Eindruck erwecken, seien somit bereits Gegenstand des Erkenntnisverfahrens gewesen.26 Auf dieser Basis könnte aus dem Unterlassungstitel wegen weiterer kerngleicher Memes direkt die Zwangsvollstreckung betreiben werden. 

Rn673

4.2.4. Gehilfenhaftung 

Hervorzuheben ist schließlich, dass das Landgericht Frankfurt die Plattformbetreiberin im Fall Künast auch zur Zahlung einer Geldentschädigung verurteilt hat. Infolge der festgestellten Verletzung ihrer Vorsorgepflichten hat die Plattformbetreiberin ihre Rolle als nur mittelbare Störerin verlassen und haftete als Gehilfin der Rechtsverletzung gemäß § 830 BGB gleich einem Täter.27

Rn674

4.3. Folgerungen für wiederholte Bildnisverbreitungen 

Es fragt sich, ob die isolierte Weiterverbreitung eines untersagten Personenbildnisses in anderen Postings einen Kernverstoß des Netzwerkbetreibers gegen ein gerichtliches Verbot darstellen kann. Im klassischen Äußerungsrecht ist dies umstritten; die Kerntheorie wird im Bildrecht grundsätzlich als unanwendbar angesehen.28 Generalisierende Verbote gegenüber Bildnissen sind unzulässig, da die Rechtmäßigkeit auf Grundlage des KUG stets einzelfallbezogen im jeweiligen Kontext zu erfolgen hat.29 Andererseits hat bereits der BGH festgehalten, dass „ein auf die konkrete Verletzungsform beschränktes Bildnis-Unterlassungsgebot nicht nur dann eingreift, wenn der Presseartikel wortgleich wiederholt wird, sondern auch dann, wenn die darin enthaltenen Mitteilungen sinngemäß ganz oder teilweise Gegenstand einer erneuten Berichterstattung unter Beifügung des zu beanstandenden Fotos sind 30. In der Welt der sozialen Netzwerke kommt hinzu, dass die Plattformbetreiber als bloße Intermediäre keine eigenen journalistisch-redaktionellen Inhalte bereitstellen, sich ihrerseits also nicht auf ein Medienprivileg berufen können.31 Die Rechtmäßigkeit der Bildnisnutzung ist dann nicht nach dem KUG, sondern regelmäßig nach Datenschutzrecht zu beurteilen. 

Rn675

4.4. Folgerungen für wiederholte Fake-Accounts

In der wiederholten Verbreitung von Fake-Accounts einer Person liegt nach den Vorgaben der Glawischnig-Piesczek-Entscheidung des EuGH ein klarer Kernverstoß gegen einen bereits erwirkten Unterlassungstitel. 

Rn676

Die Auffindbarkeit der Fake-Accounts mit sinngleichem Inhalt dürfte unproblematisch mithilfe „automatisierter Techniken und Mittel“ möglich sein, erheblich einfacher sogar als die Auffindbarkeit sinngleicher Äußerungen im Fall Glawischnig-Piesczek. Denn die „Koordinaten“ der Rechtsverletzung bestehen beim Fake-Account stets in der Trias „Name-Bildnis-Identitätsvorspiegelung“. Mithilfe von Wortfiltern und Bilderkennungs-software dürfte es den sozialen Netzwerken daher ein Leichtes sein, die Kernverstöße bzw. – in der Diktion des LG Frankfurt a.M. – die „Kandidaten“ einer Rechtsverletzung herauszufiltern. Die verbleibende Bewertungsentscheidung, ob in Ausnahmefällen einmal keine unzulässige Identitätsvorspiegelung vorliegen sollte, sondern beispielsweise eine „Fan-Seite“, ist dem Netzwerkbetreiber – auf Basis der zuvor geschilderten Rechtsprechung – zumutbar. 

Rn677

Auch sind etwaige Kernverstöße durch „sinngleiche Fake-Accounts“ bereits Gegenstand des Erkenntnisverfahrens gewesen, dies insbesondere auch nach den Kriterien des EuGH-Urteils „Glawischnig-Piesczek / Facebook“. 32 Kern des Verbots ist die Identitätsvorspiegelung durch Namen und Bildnis. Kerngleiche Verletzungshandlungen dieses Schutzrechts sind alle Nutzerkonten, die den gleichen falschen Eindruck erwecken, auch wenn hierbei andere Fotos des Betroffenen oder leichte Namensabwandlungen (Buchstabendreher o.ä.) verwendet werden.

Rn678

Unerheblich ist schließlich, ob der gerichtlich untersagte Fake-Account und der kerngleiche Verstoß denselben Urheber haben. Der entsprechenden Empfehlung des Generalanwalts zur Eingrenzung sinngleicher Äußerungen auf den identischen Rechtsverletzer ist der EuGH bewusst nicht gefolgt.

Rn679

5. Zusammenfassung

Das Haftungsrisiko der großen sozialen Netzwerke für rechtswidrige Wort-Bild-Kombinationen ihrer Nutzer (z.B. Fake-Accounts oder Memes) ist nach der jüngeren Rechtsprechung erheblich gestiegen. Der EuGH hat in der Entscheidung Glawischnig-Piesczek ./. Facebook das Tor zum Kernverstoß geöffnet. Die Erstreckung gerichtlicher Unterlassungsverfügungen auf sinngleiche Äußerungen stellt danach keine Verletzung des Hostprovider-Privilegs aus Art. 15 ECRL dar. Dem Interessenausgleich zwischen Betroffenem und Plattformbetreiber ist dadurch Rechnung getragen, dass die großen sozialen Netzwerke regelmäßig auf erhebliche technische Möglichkeiten zur automatisierten Bildnis- und Worterkennung zurückgreifen können und als sinngleich nur solche Wiederholungsverletzungen anzusehen sind, die den gleichen Betroffenen nennen und im Erkenntnisverfahren bereits gewürdigte Umstände abdecken. Das Landgericht Frankfurt/M. hat die Frage des Kernverstoßes am Beispiel von Memes weiter konkretisiert. Es begrenzt die „wirtschaftlich-technische Zumutbarkeit“ von Vorsorgepflichten auf die Frage der Identifizierbarkeit von „Kandidaten“ eines potentiellen Kernverstoßes.

Rn680

 


1 Vgl. dazu §§ 7 Abs. 2, 10 TMG; Art. 14, 15 der Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt, ABl. L 178 v. 17.7.2000 (E-Commerce-Richtlinie, „ECRL“).

2 Von den Anbietern sozialer Medien häufig als „Identitätsdiebstahl“ bezeichnet. 

3 So im Fall „Künast“ – LG Frankfurt a.M., Urteil v. 8.4.2022 – 2–03 O 188/21, K&R 2022, 459.

4 Zur Rechtsnatur des allgemeinen Persönlichkeitsrechts als Rahmenrecht und dem daraus fließenden Abwägungserfordernis vgl. nur BGH, Urteil v. 22.11.2011 – VI ZR 26/11, NJW 2012, 763, 765 (Rn. 13).

5 Vgl. dazu nur BGH, Urteil v. 12.7.2012 – I ZR 18/11 (Alone in the Dark), GRUR 2013, 370, 371 (Rn. 19). 

6 BGH, Urteil v. 12.7.2012 – I ZR 18/11 (Alone in the Dark), GRUR 2013, 370, 371 (Rn. 19).

7 So ausdrücklich Erwägungsgrund 48 der Richtlinie 2000/31/EGBGH, Urteil v. 5.2.2015 – I ZR 240/12 (Kinderhochstühle im Internet III), GRUR 2015, 485, 490 (Rn. 51); BGH, Urteil v. 12.7.2012 – I ZR 18/11 (Alone in the Dark), GRUR 2013, 370, 371 (Rn. 19).

8 Vgl. nur EuGH, Urteil v. 12.7.2011 – C-324/09 (L’Oreal/eBay), GRUR 2011, 1025, 1033 (Rn. 119 u. Rn. 141–143); BGH, Urteil v. 11.3.2004 – I ZR 304/01 (Internetversteigerung I), GRUR 2004, 860; BGH, Urteil v. 5.2.2015 – I ZR 240/12 (Kinderhochstühle im Internet III), GRUR 2015, 485, 490 (Rn. 51); BGH, Urteil v. 17.8.2011 – I ZR 57/09 (Stiftparfüm), GRUR 2011, 1038, 1040 (Rn. 21 f.).

9 BGH, Urteil v. 5.2.2015 – I ZR 240/12 (Kinderhochstühle im Internet III), GRUR 2015, 485, 490 (Rn. 49). 

10 BGH, Urteil v. 12.7.2012 – I ZR 18/11 (Alone in the Dark), GRUR 2013, 370 (Leitsatz 1). 

11 BGH, Beschluss v. 3.4.2014 – I ZB 42/11, GRUR 2014, 706, 707 (Rn. 11).

12 Vgl. nur Schmidt in: Anders/Gehle, ZPO, 80. Aufl. 2022, § 890 Rn. 2.

13 BGH, Beschluss v. 3.4.2014 – I ZB 42/11, GRUR 2014, 706 (Leitsatz 2).

14 EuGH, Urteil v. 3.10.2019 – C-18/18 (Eva Glawischnig-Piesczek/Facebook Ireland Ltd.).

15 OLG Wien, Beschluss v. 26.4.2017 – 5 R 5/17t, MMR 2017, 812, 813.

16 GA Szpunar, Schlussantrag v. 4.6.2019 – C-18/18, BeckRS 2019, 10236 Rn. 71 f. 

17 EuGH, Urteil v. 3.10.2019 – C-18/18 (Eva Glawischnig-Piesczek/Facebook Ireland Ltd.), Rn. 45 a.E. 

18 EuGH, Urteil v. 3.10.2019 – C-18/18 (Eva Glawischnig-Piesczek/Facebook Ireland Ltd.), Rn. 46 a.E. 

19 EuGH, Urteil v. 3.10.2019 – C-18/18 (Eva Glawischnig-Piesczek/Facebook Ireland Ltd.), Rn. 46 a.E. 

20 EuGH, Urteil v. 3.10.2019 – C-18/18 (Eva Glawischnig-Piesczek/Facebook Ireland Ltd.), Rn. 45.

21 EuGH, Urteil v. 3.10.2019 – C-18/18 (Eva Glawischnig-Piesczek/Facebook Ireland Ltd.) Rn. 46: “Schutz wird nicht durch eine übermäßige Verpflichtung des Hosting-Anbieters gewährleistet“.

22 LG Frankfurt/M., Urteil v. 8.4.2022 – 2-03 O 188/21, K&R 2022, 459 nicht rk. Kritisch dazu Schröder, K&R 2022, 394.

23 LG Frankfurt/M., Urteil v. 8.4.2022 – 2-03 O 188/21, K&R 2022, 459, 463.

24 LG Frankfurt/M., Urteil v. 8.4.2022 – 2-03 O 188/21, K&R 2022, 459, 461 in Abgrenzung zu BGH, Urteil v. 23.06.2009 – VI ZR 232/08.

25 LG Frankfurt/M., Urteil v. 8.4.2022 – 2-03 O 188/21, K&R 2022, 459, 462.

26 LG Frankfurt/M., Urteil v. 8.4.2022 – 2-03 O 188/21, K&R 2022, 459, 462.

27 LG Frankfurt/M., Urteil v. 8.4.2022 – 2-03 O 188/21, K&R 2022, 459, 463. Das für den Geldentschädigungsanspruch erforderliche schwere Gewicht sieht das Landgericht durch Falschzitate bereits regelmäßig begründet. Hinzu kamen die Beeinträchtigung der Glaubwürdigkeit der Klägerin gerade als Politikerin und die Verzerrung des Meinungskampfes durch derartige Falschzitate. 

28 Vgl. nur BGH, Urteil vo. 1.7.2008 – VI ZR 243/06, GRUR 2008, 1024 (Rn. 7) m.w.N.; von Strobl-Albeg, in: Wenzel, Das Recht der Wort- und Bildberichterstattung, 6. Aufl. 2018, Kap. 9 Rn. 8 m.w.N. 

29 Vgl. nur BGH, Urteil v. 6.10.2009 – VI ZR 314/08, GRUR 2010, 173, 174 (Rn. 7).

30 BGH, Urteil v. 23.6.2009 – VI ZR 232/08 (Wilde Frisur des Andrea Casiraghi), GRUR 2009, 1091, 1092 (Rn. 11). Näher dazu Korte, Praxis des Presserechts, 2. Aufl. 2019, § 5 Rn. 77 f.

31 Vgl. BGH, Urteil v. 12.10.2021 – VI ZR 489/19 (Ärztebewertung V), GRUR 2022, 258, 259 (Rn. 6, 12 f.).

32 Vgl. EuGH, Urteil v. 3.10.2019 – C-18/18 (Eva Glawischnig-Piesczek/Facebook Ireland Ltd.), Rn. 45.

 

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