Sprache auswählen
Zitiervorschlag: Schmitt-Gaedke/Klahm, LRZ 2022, Rn. 331, [●], www.lrz.legal/2022Rn331.
Permanente Kurz-URL: LRZ.legal/2022Rn331
Im einstweiligen Verfügungsverfahren sind Prognosesicherheit, Präzision und eine sichere Verfahrensgestaltung besonders wichtig, da Fehler häufig nicht mehr ausgebügelt werden können. Umso bedeutender sind die praktischen Herausforderungen, die die neue Rechtsprechung des BVerfG zur Waffengleichheit für Gerichte und Anwälte mit sich bringt.
Seit einem Weckruf im Jahr 20171 hat das BVerfG mehrfach zum Ausdruck gebracht,2 dass die bei führenden Instanzgerichten seit Jahrzehnten etablierte Praxis des einstweiligen Verfügungsverfahrens im Presse- und Wettbewerbsrecht gegen die prozessuale Waffengleichheit verstößt und deshalb die Antragsgegner in einem allgemeinen Prozessgrundrecht verletzt. Zwei jüngere Entscheidungen des BVerfG3 verdeutlichen, dass die tektonischen Setzbewegungen in den Instanzengerichten bis heute noch nicht abgeschlossen sind. Prozesspraktiker ahnen, dass dies nicht an „grundsätzlichen Missverständnissen“4 der jeweiligen Instanzengerichte liegt, sondern der Notwendigkeit einer praktischen Neuordnung des einstweiligen Verfügungsverfahrens geschuldet ist. Mit den Entscheidungen des BVerfG sind also grundsätzliche Fragen aufgeworfen, die es zu beleuchten gilt.
Die Forderung nach Waffengleichheit im Zivilprozess beruht sowohl auf dem Rechtsstaatsprinzip als auch auf dem allgemeinen Gleichheitssatz.5 Der Grundsatz der Waffengleichheit sichert die Gleichbehandlung der Parteien vor dem Richter, also die Gleichwertigkeit der prozessualen Stellung der Parteien im Zivilprozess6 und die Gesetzesanwendungsgleichheit in einem rechtsstaatlich fairen Verfahren.7 Er konkretisiert sich in der Verpflichtung, den Prozessparteien in dem von der Verfahrensordnung vorgegebenen Rahmen die Möglichkeit einzuräumen, alles für die gerichtliche Entscheidung Erhebliche vorzutragen und sämtliche zur Abwehr des gegnerischen Angriffs erforderlichen prozessualen Verteidigungsmittel geltend zu machen.8 Die Waffengleichheit schließt den Grundsatz des rechtlichen Gehörs ein und geht über diesen hinaus: Da die Gewährung rechtlichen Gehörs darauf zielt, der Partei Einfluss auf die gerichtliche Entscheidung zu geben (vgl. § 282 Abs. 1 ZPO) stellt der Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) einen speziellen Fall der Waffengleichheit dar.9
Die mittlerweile überholte Praxis des einstweiligen Verfügungsverfahrens war von einer systematischen Benachteiligung des Antragsgegners geprägt: Der gesetzliche Ausnahmefall der stattgebenden Beschlussverfügung (vgl. § 937 Abs. 2 ZPO) war zur absoluten Regel erstarkt. Um einen diskreten Kommunikationskanal zum Gericht zu eröffnen und eine solche Beschlussverfügung zu erhalten, galt es als notwendige Requisite einer lege artis gefertigten Antragsschrift, das Gericht formelhaft um Hinweiserteilung zu bitten und die eigene Mobilfunknummer oder Durchwahl zu nennen, um diesem eine bequeme Kontaktaufnahme zu ermöglichen. Sofern das adressierte Gericht den Antrag nicht als aus sich heraus beschlusswürdig erachtete, gehörte es zum guten Ton, den Antragstellervertreter anzurufen und mündlich Hinweise zu erteilen, die zur Änderung des Antrags, Ergänzung des Sachvortrags, Nachreichung von Glaubhaftmachungsmitteln oder – in seltenen Fällen – auch zur Rücknahme des Antrags führten. Ebenso gehörte es zur etablierten Verfahrensweise, den Antragsgegner möglichst vom Verfahren fernzuhalten bzw. ihn im Falle einer Antragsrückahme völlig in Unkenntnis über das gegen ihn angestrengte Verfahren zu lassen. Mit der Einreichung einer Schutzschrift beim Zentralen Schutzschriftenregister nach § 945a ZPO10 konnte der Antragsgegner diesem Zustand nur ansatzweise entgegenwirken: Schon im Ausgangspunkt stand er vor dem praktischen Problem, den möglichen Inhalt eines Verfügungsantrags antizipieren und präventiv erwidern zu müssen; erst recht war es ihm im weiteren Austausch zwischen Gericht und Antragsteller verwehrt, sich in das Verfahren einzubringen.
Diese Praxis, die die effektive Erledigung des Verfahrens – fast immer im Sinne des Antragstellers – ermöglichte, wurde dogmatisch um §§ 936, 922 Abs. 3 ZPO herum aufgebaut. § 922 Abs. 3 ZPO stellt eine Ausnahme zum umfassenden Akteneinsichtsrecht nach § 299 Abs. 1 ZPO dar. Seine Anwendung auf das einstweilige Verfügungsverfahren wurde mit der Notwendigkeit eines Überraschungseffekts begründet;11 es sei nämlich zu verhindern, dass sich der Antragsgegner nach Kenntniserlangung der einstweiligen Anordnung entziehe. Diese Argumentation mochte bei der Leistungs- oder Sicherungsverfügung, insbesondere bei der Geltendmachung von Sequestrationsansprüchen, ihre Berechtigung haben. Unpassend war sie hingegen schon immer in den klassisch gelagerten Fällen einer Regelungsverfügung, mit welcher der Antragsteller die Unterlassung weiterer Verletzungshandlungen begehrt. Offensichtlich vorgeschoben war die Rechtfertigung über das von § 922 Abs. 3 ZPO bezweckte Überraschungsmoment dann, wenn der Antragsgegner – wie fast immer – bereits abgemahnt war und daher mit einer einstweiligen Verfügung rechnen musste. Um es kurz zu fassen: Im Eilverfahren hatte sich eine für Gericht und Antragsteller bequeme Praxis etabliert, die dogmatisch auf tönernen Füßen ruhte.
Diese tönernen Füße wurden mit der neueren Rechtsprechung des BVerfG zertrümmert.
Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist grundsätzlich eine Anhörung zum Verfügungsantrag erforderlich. Die Anhörung kann allerdings auf unkomplizierte Weise, nämlich auf schnellen Kommunikationswegen (insbesondere per E-Mail oder telefonisch, was gerade bei Auslandssachverhalten eine erhebliche Zeitersparnis mit sich bringen kann) erfolgen und hierbei kurze Antwortfristen vorsehen.12
Entbehrlich ist eine Anhörung nur ganz ausnahmsweise, nämlich dann, wenn
Jedenfalls in den Fällen, in denen es um eine bereits veröffentlichte Äußerung geht, besteht regelmäßig kein Grund, von einer Anhörung und Äußerungsmöglichkeit eines Antragsgegners vor dem Erlass einer einstweiligen Verfügung abzusehen.16
Der Antragsgegner darf auch sonst nicht aus dem Verfahren herausgehalten werden. Er ist vor Erlass einer Entscheidung nicht nur über das Vorbringen des Antragstellers, sondern auch über richterliche Hinweise (und ggf. auch über sonstiges Prozessgeschehen) in gleicher Weise zu informieren wie der Antragsteller.17 Dies gilt nach Rechtsprechung des BVerfG ganz besonders dann, wenn der Antragsteller eine Einschätzung zu den Erfolgsaussichten erhält oder wenn ihm durch Hinweise Gelegenheit gegeben wird, seinen Antrag nachzubessern. Hand in Hand mit dieser Pflicht zur Offenlegung geht die Pflicht zur Dokumentation: Hinweise müssen, insbesondere sofern sie telefonisch gegeben werden, vollständig dokumentiert werden, so dass sich aus den Akten ergibt, wer wann wem welchen Hinweis erteilt hat. Dies gilt auch dann, wenn der Antrag zurückgewiesen wird, da die Hinweise dann möglicherweise für andere Verfahren wertvolle Erkenntnisse vermitteln.18 Es ist mit der Waffengleichheit also unvereinbar, ein „Geheimverfahren“ zu führen, in dem sich Gericht und Antragsteller – z.B. über Rechtsfragen – austauschen, ohne den Antragsgegner einzubeziehen.19
Das BVerfG geht davon aus, dass angesichts der Eilbedürftigkeit über den Verfügungsantrag häufig ohne mündliche Verhandlung entschieden werden muss. Hiergegen erhebt das BVerfG keine grundsätzlichen Bedenken, sofern den oben gestellten Anforderungen – z.B. durch eine schriftliche Einbeziehung des Antragsgegners – genügt ist.20 Allerdings ist das Gericht gebunden, das Vorliegen der Dringlichkeit i.S.d. § 937 Abs. 2 ZPO und somit die Voraussetzung für eine Beschlussverfügung ohne mündliche Verhandlung laufend zu prüfen. Voraussetzung für eine Dringlichkeit ist eine „zügige Verfahrensführung“, und zwar sowohl durch den Antragsteller als auch durch das Gericht. Stellt sich im Verlauf des Verfahrens heraus, dass nicht unverzüglich entschieden werden muss oder kann, so ist ggf. eine mündliche Verhandlung anzuberaumen, auf deren Grundlage dann zu entscheiden ist.21 Von welcher Dauer eine Verzögerung sein darf, hat das BVerfG noch nicht entschieden. In einer Entscheidung hat es jedoch zum Ausdruck gebracht, dass ein Zuwarten des Antragstellers von drei Wochen nach Ablauf der dem Antragsgegner gesetzten Frist zur Abgabe einer Unterlassungsverpflichtungserklärung und eine Bescheidung eines Antrags nach zwölf Tagen als zu lang erachtet wird.22
Was kann also getan werden, wenn es zu einer Verletzung der Waffengleichheit kommt? Leider zeigt sich bis heute, dass die Verstöße häufig nicht auf einen Rechtsirrtum der Gerichte, sondern auf ein bewusstes und systematisches Übergehen der prozessualen Verfahrensrechte des Antragsgegners zurückzuführen sind. Abgesehen davon, dass gegen derartige Rechtsverletzungen kein spezifischer verfahrensimmanenter Rechtsbehelf besteht, sollten mit den klassischen Ausbesserungsversuchen (vor allem mit einem Antrag auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung, § 924 Abs. 3 ZPO i.V.m. § 707 Abs. 1 Satz 2 ZPO) keine allzu großen Hoffnungen verbunden werden. Den Verfassern ist kein Fall bekannt, in denen ein solcher Antrag positiv beschieden worden wäre. Wer sich gegen ein belastendes Verbot wenden möchte, wird daher nicht umhinkommen, das BVerfG anzurufen.
Die Verfassungsbeschwerde setzt grundsätzlich ein den Anforderungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG, also hinreichend gewichtiges Feststellungsinteresse voraus.
Die Darlegung eines besonderen Feststellungsinteresses kann ausnahmsweise entbehrlich sein, wenn schwere, grundrechtlich erhebliche Nachteile für den Beschwerdeführer im Sinne von § 32 Abs. 1, § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG geltend gemacht werden (was wohl bei äußerungsrechtlichen Sachverhalten regelmäßig angenommen wird),23 eine offenkundig rechtswidrig erlassene einstweilige Verfügung noch fortwirkt und das Widerspruchsverfahren eingeleitet wurde und noch andauert.24 Allerdings ist hierbei stets auf den Verbotsinhalt abzustellen: Zumindest in Wettbewerbsstreitigkeiten ist der Schadensersatzanspruch nach § 945 ZPO aber regelmäßig ausreichend, um den Antragsgegner abzusichern. Offengelassen hat das BVerfG, ob dies ausnahmsweise dann nicht gilt, wenn der Antragsteller sein gesamtes Geschäftsmodell nicht mehr verfolgen kann.25
Auch sonst ist das Feststellungsinteresse nicht bei jedem Verfahrensfehler gegeben, sondern setzt insbesondere eine hinreichend konkrete Gefahr einer gleichartigen Entscheidung unter ähnlichen rechtlichen und tatsächlichen Umständen voraus.26 Dies muss der Beschwerdeführer näher darlegen.27 Diesen Anforderungen ist genügt, wenn die Zivilgerichte die Anforderungen aus dem Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit grundsätzlich verkennen und ihre Praxis nicht den verfassungsrechtlichen Maßstäben anpassen.28 Sofern der Beschwerdeführer jedoch Verletzungen durch den Pressesenat des Hanseatischen Oberlandesgerichts29 und die Pressekammer des Landgerichts Berlin30 geltend macht, entfällt diese Voraussetzung wegen bereits erfolgter Wiederholungen zukünftig.
Gemäß § 93 Abs. 1 BVerfGG ist die Verfassungsbeschwerde innerhalb eines Monats zu erheben und zu begründen. Die Frist beginnt nach § 93 Abs. 1 S. 2 BVerfGG mit Kenntnisnahme von der unter Missachtung der Waffengleichheit erlassenen einstweiligen Verfügung, regelmäßig also mit der Zustellung der einstweiligen Verfügung.31 Dies gilt auch dann, wenn dem Antragsgegner die einstweilige Verfügung zugestellt worden ist, er aber erst später von einseitig bekanntgegebenen Hinweisen oder anderem Prozessgeschehen erfährt. Allerdings kommt nach der Rechtsprechung des BVerfG in solchen Konstellationen eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Betracht, wobei die Anforderungen an die individuellen Sorgfaltspflichten aufgrund des Bezugs zu Art. 103 Abs. 1 GG und Art. 19 Abs. 4 GG nicht überspannt werden dürfen.32
Die einstweilige Verfügung ohne Anhörung des Antragsgegners durch das Gericht ist mit der Entscheidungsserie des BVerfG zum Auslaufmodell geworden. Wer als Antragsgegner eine rasche Beschlussfassung benötigt, wird unbedingt darauf achten müssen, den Antrag umgehend einzureichen und sich hierbei ausschließlich auf die Abmahnung zu beziehen. Diese Möglichkeit und das bis heute andauernde Festhalten einiger Gerichte an der alten Praxis sprechen dafür, auch heute noch die Einreichung einer Schutzschrift in Betracht zu ziehen.
Ein Aspekt scheint uns bislang in der Rechtsprechung des BVerfG zu kurz zu kommen. Das BVerfG geht davon aus, dass dem Antragsgegner mit der Fristsetzung eine Möglichkeit zur Stellungnahme gewährt wird. Üblicherweise ist dies – zumindest, wenn man auf den Wortlaut der Abmahnungen abstellt – aber nicht der Fall: Hier wird mit der Abmahnung nur eine Gelegenheit zur Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung, nicht aber zur Stellungnahme gewährt. Daher ist es für den Antragsgegner kaum ersichtlich, dass die Frist zur Unterwerfung auch als Stellungnahmefrist anzusehen ist und dass er dazu berufen ist, sich innerhalb dieser Frist zum Vorwurf zu äußern, um vor Gericht gehört zu werden. Gerade in Fällen, wo kein Rechtsverstoß vorliegt und daher auch keine Antwortpflicht besteht,33 ergibt sich hier ein Widerspruch zur bisherigen Rechtsprechung. Nach unserer Auffassung sind die oben unter 3. 1. dargestellten drei Kriterien um ein viertes Kriterium zu ergänzen: Ausreichend ist die Abmahnung nur dann, wenn sie dem Antragsgegner vermittelt, dass er Gelegenheit zur Stellungnahme erhält und dass seine Stellungnahme ggf. dem Gericht vorgelegt wird und dort eigenen Prozessvortrag ersetzen kann.