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Zitiervorschlag: Burholt/Brueckner, LRZ 2022, Rn. 255, [●], www.lrz.legal/2022Rn255.
Permanente Kurz-URL: LRZ.legal/2022Rn255
Der vorliegende Beitrag beleuchtet zunächst den rechtspolitischen Hintergrund des Marktmachtberichts des Bundeskartellamts vom 17. Februar 2022 (1.). Danach würdigt er die vom Bundeskartellamt angeführte Begründung für die Marktbeherrschung durch RWE (2.). Schließlich folgt ein Ausblick auf die praktischen Konsequenzen für RWE (3.).
Das Bundeskartellamt („BKartA“) hat am 17. Februar 2022 seinen jüngsten Bericht über die Wettbewerbsverhältnisse im Bereich der Erzeugung elektrischer Energie im Zeitraum Oktober 2020 bis einschließlich September 2021 („Marktmachtbericht“) veröffentlicht. Es kommt zu dem Ergebnis, dass der Stromerzeuger RWE über eine beherrschende Stellung auf dem deutsch-luxemburgischen Stromerstabsatzmarkt verfügt. Die Begründung des BKartA zu den Marktverhältnissen und zur marktbeherrschenden Stellung von RWE ist ungewöhnlich. Sie weicht erheblich von der Herangehensweise des BKartA auf anderen Märkten ab.
Das BKartA erfüllt mit der Veröffentlichung des Marktmachtberichts nunmehr zum dritten Mal den seit 2016 in § 53 Abs. 3 Satz 2 GWB verankerten gesetzgeberischen Auftrag, mindestens alle zwei Jahre Berichte über die Wettbewerbssituation bei der Erzeugung elektrischer Energie zu veröffentlichen.1 Die Berichte sollen Stromerzeugungsunternehmen u.a. in die Lage versetzen, ihre aktuelle Marktposition einzuschätzen, um die ihnen zustehenden Verhaltensspielräume am Markt beurteilen zu können.2 Die letzten Marktmachtberichte des BKartA sind im Dezember 20193 bzw. Dezember 20204 veröffentlicht worden. Den gesetzgeberischen Auftrag hat das BKartA insofern übererfüllt und die Bedeutung des Energiesektors und seiner engen Überwachung durch das BKartA damit unterstrichen.
Hintergrund für das enge Monitoring ist die Entscheidung des Gesetzgebers, die konventionelle Stromerzeugung, jedenfalls außerhalb der Förderung durch das EEG, Marktmechanismen zu überlassen und darüber für einen Ausgleich zwischen Erzeugung und Verbrauch zu sorgen. In Deutschland besteht zudem keine Andienungspflicht für Betreiber von Ersterzeugungsanlagen, sodass die Preisbildung – im Unterschied zu anderen Mitgliedstaaten – frei nach wettbewerblichen Grundsätzen ohne regulatorische Obergrenze erfolgt.5
Dass RWE als marktbeherrschend auf dem deutschen Stromerstabsatzmarkt angesehen wird, ist nicht neu. Bereits 2003 hat das BKartA eine gemeinsame Marktbeherrschung im deutschen Strommarkt durch RWE und E.ON angenommen.6 Dies wurde 2007 vom OLG Düsseldorf7 und 2008 vom BGH8 höchstrichterlich bestätigt. Auch die Europäische Kommission ist 2008 zu dem Schluss gelangt, dass RWE, E.ON und Vattenfall gemeinsam über eine beherrschende Stellung auf dem deutschen Stromabsatzmarkt verfügten.9 Eine individuelle marktbeherrschende Stellung sah das BKartA bei RWE, E.ON, EnBW und Vattenfall erstmalig 2011 in seinem Abschlussbericht der Sektoruntersuchung „Stromerzeugung und -großhandel“.10 Das Ergebnis wurde durch das BKartA in den Marktmachtberichten 201911 und 202012 zwar zunächst nicht mehr bestätigt. Gleichzeitig warnte das BKartA aber davor, dass RWE bereits in naher Zukunft wieder in eine marktbeherrschende Stellung hineinwachsen könnte.13 Diese Warnung hat das BKartA in der Freigabeentscheidung für den Erwerb einer Minderheitsbeteiligung an E.ON durch RWE wiederholt.14 Angesichts dieser Vorbefassung kommt die Feststellung einer marktbeherrschenden Stellung durch das BKartA im Marktmachtbericht 2021 nicht überraschend.
Nach der Legaldefinition des § 18 Abs. 1 GWB ist ein Unternehmen marktbeherrschend, soweit es als Anbieter oder Nachfrager einer bestimmten Art von Waren oder gewerblichen Leistungen auf dem sachlich und räumlich relevanten Markt ohne Wettbewerber ist (Nr. 1), keinem wesentlichen Wettbewerb ausgesetzt ist (Nr. 2) oder eine im Verhältnis zu seinen Wettbewerbern überragende Marktstellung hat (Nr. 3). Praktisch erfordert die Prüfung des Marktbeherrschungstatbestands in einem ersten Schritt die Abgrenzung des sachlich und räumlich relevanten Marktes. Nach dem klassischen kartellrechtlichen Verständnis eines Bedarfsmarktes hat die Marktabgrenzung anhand der funktionellen Austauschbarkeit von Waren oder gewerblichen Dienstleistungen aus Sicht der Nachfrager zu erfolgen.15 In einem zweiten Schritt muss die Marktstellung des Unternehmens auf dem relevanten Markt im Verhältnis zu seinen Wettbewerbern bewertet werden. Dabei gilt sein Marktanteil in der Regel als „wichtigstes Merkmal“ für die Beurteilung seiner Marktmacht.16 In der Begründung der marktbeherrschenden Stellung von RWE im Marktmachtbericht 2021 weicht das BKartA jedoch in beiden Schritten erheblich von dieser Herangehensweise ab.17
Das BKartA grenzt einen deutsch-luxemburgischen18 Markt für die Erzeugung und den erstmaligen Absatz von Strom ab (sog. Stromerstabsatzmarkt).19 Dieser umfasse grundsätzlich alle Stromerzeugungsmengen und -kapazitäten, die „zur Befriedigung derselben Nachfrage nach Strom geeignet und daher aus Sicht der Nachfrager austauschbar sind“.20 Nach Auffassung des BKartA liegen diese Voraussetzungen bei der Stromproduktion zum Eigenverbrauch und der Einspeisung in das Bahnstromnetz, der Regelenergie, Reservekapazitäten und beim sog. Redispatch nicht vor, sodass diese aus dem sachlich-relevanten Markt herausfallen.21 Dies entspricht dem klassischen kartellrechtlichen Verständnis eines Bedarfsmarktes, da dieser Strom in der Nachfrage der allgemeinen Versorgung schon nicht zur Verfügung steht, sodass es an der Austauschbarkeit fehlt. Die hier vom BKartA vorgeschlagene Nichtberücksichtigung ist insoweit auch ohne Kritik geblieben.
Kontrovers hingegen ist die Entscheidung des BKartA, den Strom, der nach den Grundsätzen des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) vermarktet und vergütet wird, ebenfalls aus dem Stromerstabsatzmarkt auszuklammern. Gegen diese Nichtberücksichtigung bei der Marktabgrenzung spricht – wie das BKartA selbst anerkennt22 – dass EEG-Strom aus Sicht der Nachfrager ein perfektes Substitut für nicht nach dem EEG geförderten Strom darstellt, sodass bei strenger Anwendung des Bedarfsmarktprinzips ein einheitlicher Markt bestünde.
Das BKartA begründet seine Marktabgrenzung mit der Auswirkung der Förderungsmechanismen des EEG hinsichtlich der Wettbewerbsbedingungen auf den Markt für Strom zur Deckung der allgemeinen Versorgung. Die Förderung führe dazu, dass die Nachfrage vorrangig mit Strom aus geförderten Anlagen gedeckt werde. Erst wenn diese Anlagen ihre Kapazität ausgeschöpft haben, treten die nicht geförderten Erzeugungskapazitäten in den Wettbewerb um die Residualnachfrage ein.23 Damit stehe EEG-Strom nicht im Wettbewerb zum konventionell erzeugten Strom, obwohl beide funktionell austauschbar seien.
Der Marktabgrenzungsansatz des BKartA ist von Marktteilnehmern, darunter RWE, kritisiert worden. RWE argumentiert, dass die EEG-Förderung angesichts der regulatorischen Entwicklungen nur die Investitionsentscheidung und nicht die Vermarktung des in den geförderten Anlagen erzeugten Stroms beeinflusse, sodass seine Ausklammerung sachlich nicht gerechtfertigt sei.24 Für Nachfrager auf der Großhandelsebene und in nachgelagerten Märkten sei nicht erkennbar, ob es sich um regenerativ oder konventionell erzeugten Strom handele. Zudem würden geförderte Anlagen auf Preissignale aus dem Stromerstabsatzmarkt reagieren, was für ihre Einbeziehung in den Markt spreche.25
Auch die Monopolkommission folgt dem BKartA nicht uneingeschränkt. Ob EEG-Strom dem Stromerstabsatzmarkt angehöre, richte sich danach, ob die Betreiber der geförderten Anlagen die Möglichkeit und den Anreiz haben, auf Basis der Kontrolle über diese Anlagen den einheitlichen Großhandelspreis für Strom ggfs. missbräuchlich zu beeinflussen.26 Bei den älteren, festvergüteten Anlagen sei diese Frage zu verneinen.27 Bei den neueren Anlagen, die nach dem Marktprämienmodell gefördert werden, müsse man nach dem Anlagentyp differenzieren.28 Solar- und Windkraftanlagen seien zu Recht nicht in den Stromerstabsatzmarkt einbezogen worden, da der Zeitpunkt der Einspeisung des erzeugten Stroms nicht flexibel gesteuert werden könne.29 Zudem bestünde für diese Anlagen aufgrund der technologiespezifischen Berechnung der auf sie anwendbaren Marktprämie ohnehin kein Anreiz zur Kapazitätszurückhaltung.30 Für die Nichtberücksichtigung der geförderten Anlagen, die Strom aus Wasserkraft, Deponiegas, Klärgas, Grubengas, Biomasse oder Geothermie erzeugen, bestehe jedoch kein sachlicher Grund, da diese flexibel gesteuert werden könnten und von einer Kapazitätszurückhaltung angesichts der technologieneutralen Berechnung der auf sie anwendbaren Marktprämie profitieren könnten.31
Die Marktabgrenzung des BKartA verdient im Ergebnis, bei aller berechtigter Kritik, jedoch insofern Zustimmung, als regenerativer und konventioneller Strom nicht unter gleichen Voraussetzungen in das Stromnetz gelangen. Die Tatsache, dass im Stromerstabsatzmarkt ein faktischer Einspeisevorrang für EEG-geförderten Strom herrscht, zeigt, dass nicht-geförderter und geförderter Strom nicht miteinander im Wettbewerb stehen, auch wenn sie den gleichen Endbedarf decken. Ob diese Lage vorwiegend der EEG-Förderung oder der günstigeren Kostenstruktur der Stromproduktion aus erneuerbaren Energien geschuldet ist, kann dahinstehen, da die Ursache für die Erfassung der Machtverhältnisse zwischen Abnehmern und Nachfragern auf dem Stromerstabsatzmarkt ohne Belang ist. Dies gilt gerade auch für die von der Monopolkommission geäußerte Kritik, dass jedenfalls die erwähnten unabhängigen EEG-Anlagen in den Stromerstabsatzmarkt einzubeziehen seien. Solange der dadurch erzeugte Strom vorrangig eingespeist wird und damit sein wettbewerbliches Potenzial vor dem Eintritt des konventionell erzeugten Stroms vollständig ausschöpft, erscheint es sachgerechter, von unterschiedlichen Produktmärkten auszugehen.
Das BKartA kommt zu dem Ergebnis, dass RWE auf dem so abgegrenzten deutsch-luxemburgischen Stromerstabsatzmarkt über eine beherrschende Stellung verfügt.32 Das BKartA folgert dies nicht aus besonders hohen Marktanteilen von RWE – die von der üblichen Vermutungsschwelle entfernt sind – sondern vielmehr aus der Unverzichtbarkeit seiner Stromerzeugungskapazität für die Deckung der Gesamtnachfrage auf dem Stromerstabsatzmarkt. Die Unverzichtbarkeit quantifiziert das BKartA im Rahmen einer sog. Pivotanalyse mithilfe des sog. Residual Supply Index (RSI)33 , der im Ergebnis die Unverzichtbarkeit der Stromerzeugungskapazität innerhalb eines bestimmten Zeitraumes misst, zuletzt in Abständen von Viertelstunden. Ist der RSI-Wert eines Unternehmens kleiner als 1, ist das Unternehmen in dieser Viertelstunde unverzichtbar, da die Gesamtnachfrage ohne die Kapazität dieses Unternehmens in diesem Zeitraum nicht gedeckt werden könnte. Eine marktbeherrschende Stellung eines Stromerzeugers vermutet das BKartA, wenn der RSI-Wert in mindestens 5% eines zwölfmonatigen Zeitraums (d. h. in mindestens 438 Stunden bzw. 1.752 Viertelstunden) kleiner als 1 ist.34 Da RWE in wesentlich mehr als 5 Prozent der Zeit für die Deckung der Gesamtnachfrage in Deutschland unerlässlich ist, sei zu vermuten, dass RWE marktbeherrschend sei, obwohl sein Marktanteil die 40%-Schwelle der in § 18 Abs. 4 GWB verankerten Vermutung deutlich unterschreitet.35 Vielmehr beträgt der vom BKartA ermittelte Marktanteil im Berichtszeitraum auf der Grundlage des RSI 22%, gemessen nach Kapazität, bzw. 25,3%, gemessen an der Gesamterzeugung.
Das BKartA begründet seine Abweichung von der üblichen Bestimmung der Marktmacht anhand der Höhe der Marktanteile mit den Besonderheiten des Stromerstabsatzmarktes. Die fehlende Speicherbarkeit von Strom, eine kurzfristig sehr unelastische Nachfrage, sowie die systemische Bedeutung der Versorgungssicherheit führten dazu, dass die Abnehmer (im Ganzen) selbst bei nicht herausragenden Marktanteilen von einem Stromerzeuger abhängig sein können, wenn seine Leistung für die vollumfängliche Deckung der Nachfrage unerlässlich ist.36
Dieser Ansatz ist vereinzelt auf grundlegende Kritik gestoßen. Stadler wendet ein, dass die nach dem RSI ermittelte Pivotalität lediglich die hypothetische Möglichkeit eines Marktmissbrauchs durch Kapazitätszurückhaltung oder überhöhte Preisquotierungen indiziert, ohne die Annahme zu begründen, dass eine solche Strategie im deutschen Markt praktisch umsetzbar und langfristig gewinnoptimierend wäre.37 Marktteilnehmer haben hingegen im Wesentlichen nur Anwendungsmodalitäten, wie Art und Umfang der Bezugnahme auf Eingangsgrößen, für die Pivotanalysen kritisiert. Vor allem der Umstand, dass die Pivotanalyse die Eigenschaft eines Unternehmens als Normadressaten nicht verlässlich aus einer ex-ante Perspektive zuließe, weil der RSI-Wert erst ex-post ermittelt werden kann, wird moniert.38 Auch die Monopolkommission teilt diese Bedenken.39
Das Abstellen auf die Unverzichtbarkeit der Stromerzeugungskapazität als Indiz für die Marktmacht der an dem Stromerstabsatzmarkt beteiligten Unternehmen erscheint insgesamt nachvollziehbar und gerechtfertigt, um den besonderen Marktstrukturen gerecht zu werden. Der von Stadler vorgebrachte Einwand steht der Herangehensweise des BKartA im Marktmachtbericht nicht wirklich entgegen, insbesondere weil der geforderte Beweis der konkreten Umsetzbarkeit abstrakt gar nicht geführt werden kann. Die unverbindlichen Feststellungen des BKartA im Rahmen seiner Monitoringfunktion sollen jedoch die Selbsteinschätzung der Unternehmen erleichtern. Damit entkräftet die Tatsache, dass der Marktmachtbericht regelmäßig erscheint, einen der wesentlichen von Marktteilnehmern und der Monopolkommission gegenüber dem RSI geäußerten Kritikpunkte. Die Herausforderung für die Stromerzeuger, darüber hinaus unterjährig und zwischen dem Erscheinen der Marktmachtberichte, ihre marktbeherrschende Stellung selbst einschätzen zu müssen, sind dem Missbrauchsrecht immanent und werden durch die Herangehensweise des BKartA im Stromerstabsatzmarkt jedenfalls nicht in offensichtlicher Weise ungebührend verstärkt.
Auch wenn die Feststellung des BKartA nicht bindend ist, dient sie als Warnung für die verstärkte Überwachung des Stromerzeugungsmarkts auf missbräuchliches Verhalten. Als solches kommt insbesondere die missbräuchliche Kapazitätszurückhaltung in Betracht, die eine Form des Ausbeutungsmissbrauchs im Sinne von Art. 102 AEUV, § 19 Abs. 1 GWB darstellt. Dies bedeutet ein erhöhtes regulatorisches Risiko für RWE, das angesichts der weiteren Verknappung im Stromerstabsatzmarkt aufgrund des Rückbaus konventioneller Erzeugungskapazitäten nur zunehmen wird. Auch für andere Stromerzeuger wird sich das Risiko trotz des derzeit noch erheblichen Marktanteilsabstands von 10%-Punkten und mehr40 eher verstärken.
Inwieweit in Anbetracht des möglichen Ausfalls russischer Energieressourcen das Bundeskartellamt seine Herangehensweise umstellt und ggf. kurzfristig einer noch engeren Aufsicht unterstellt oder sogar der Gesetzgeber tätig wird, bleibt abzuwarten. Die Europäische Kommission hat am 29. März 2022 die Räumlichkeiten u.a. von Gazprom mit der Begründung des Verdachts missbräuchlichen Verhaltens (Preishöhenmissbrauch) durchsucht.41 Am 4. April 2022 hat das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) die Bundesnetzagentur vorübergehend als Treuhänderin für die Gazprom Germania Gruppe eingesetzt.42 Diese jüngsten Entwicklungen lassen sichere Prognosen vorerst nicht zu.