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Zitiervorschlag: Lorenz, LRZ 2023, Rn. 273, [●], www.lrz.legal/2023Rn273.

Permanente Kurz-URL: LRZ.legal/2023Rn273

Der aus drei Teilen bestehende Beitrag unterzieht die „Europäische Erklärung zu den digitalen Rechten und Grundsätzen für die digitale Dekade“ des Europäischen Parlaments, des Rats und der Europäischen Kommission vom Dezember 2022 einer ausführlichen und kritischen Analyse.

1. Einführung

Bereits im Vorfeld ihrer Unterzeichnung am 15.12.2022 hat die gemeinsame „Europäische Erklärung zu den digitalen Rechten und Grundsätzen für die digitale Dekade“ („European Declaration on Digital Rights and Principles for the Digital Decade“)1 von Europäischem Parlament, Rat und Europäischer Kommission für rege Diskussionen gesorgt. Diese basiert auf einem Vorschlag der EU-Kommission von Anfang 20222 und gliedert sich in sechs Kapitel – (I) Die Menschen im Mittelpunkt des digitalen Wandels, (II) Solidarität und Inklusion, (III) Wahlfreiheit, (IV) Teilhabe im digitalen öffentlichen Raum, (V) Sicherheit, Schutz und Befähigung und (VI) Nachhaltigkeit –, die als ganzheitlicher Bezugsrahmen allerdings nicht isoliert betrachtet werden sollen.3 Kritisch beurteilt worden sind nicht allein die einzelnen in der Erklärung verankerten digitalen Rechte und Grundsätze einschließlich der zugehörigen Selbstverpflichtungen von Europäischem Parlament, Rat und Europäischer Kommission. Vielmehr ist – und wird – sie als solche, v.a. ihr Mehrwert, mit guten Argumenten in Frage gestellt.

Rn273

Nachfolgend wird die „Europäische Erklärung zu den digitalen Rechten und Grundsätzen für die digitale Dekade“ in ihrer unterzeichneten Fassung vorgestellt und im Hinblick auf ihre rechtspraktische Bedeutung bewertet. Weil die Erklärung hierzu im Lichte der weiteren politischen und rechtlichen Geschehnisse auf Unionsebene betrachtet werden muss, werden zudem die Wesentlichen der insoweit einschlägigen politischen Ansätze, Regulierungsvorhaben und bereits erlassenen Rechtsakte der jüngeren Zeit aufgezeigt.

Rn274

Bereits an dieser Stelle sei angemerkt, dass die hier dargestellte interinstitutionelle „Europäische Erklärung zu den digitalen Rechten und Grundsätzen für die digitale Dekade“ insbesondere nicht mit der „Charta der digitalen Grundrechte der Europäischen Union“, kurz „Digitalcharta“4 verwechselt werden darf. Bei letzterer handelt es sich um eine Initiative von Politikern, Wissenschaftlern, Schriftstellern, Journalisten und Bürgerrechtlern, die darauf zielt, existente Grundrechte im digitalen Zeitalter zu stärken und zu konkretisieren, indem diese positivrechtlich, v.a. allgemein- und rechtsverbindlich aber auf EU-Ebene verankert werden. Auf gleicher Linie liegt die Initiative der Stiftung Jeder Mensch e.V., die ihrerseits sechs neue europäische Grundrechte fordert (u.a. das Recht eines jeden Menschen auf digitale Selbstbestimmung und das Recht eines jeden Menschen, dass ihn belastende Algorithmen transparent, überprüfbar und fair sind).5

Rn275

2. Hintergrund

In Ansehung der hohen Zahl der jüngeren politischen und rechtlichen Geschehnisse auf Unionsebene im Bereich der Digitalisierung im Allgemeinen und das europäische Datenrecht betreffend im Besonderen, in deren Zusammenschau die „Europäische Erklärung zu den digitalen Rechten und Grundsätzen für die digitale Dekade“ gesehen werden kann, kann nachfolgend nur auf Ausgewählte hingewiesen werden. Bei näherer Betrachtung derselben wird aber recht schnell deutlich, dass übergreifend maßgeblich zwei Termini dominieren: digitaler Wandel einerseits und Menschenzentriertheit andererseits.

Rn276

Am 16.8.2020 hatte Kommissionspräsidentin von der Leyen in ihrer Rede zur Lage der Union dazu aufgerufen, die nächsten Jahre Europas zur „digitalen Dekade“ zu machen.6 Anschließend, am 9.3.2021, hat die EU-Kommission in ihrer Mitteilung "Digitaler Kompass 2030: der europäische Weg in die digitale Dekade" ihre Vision für den digitalen Wandel Europas bis 2030 dargelegt.7 Diese baut auf der Digitalstrategie der Kommission vom Februar 20208 auf und sieht im Wesentlichen vor, dass der digitale Wandel im Einklang mit den europäischen Werten zu stehen hat, die Menschen in den Mittelpunkt zu stellen sind, die Handlungskompetenz des Einzelnen zu stärken ist und innovative Unternehmen zu fördern sind.9 Es stellt ferner die Antwort auf die Forderung des Europäischen Rates nach einem umfassenden „digitalen Kompass“10 dar. Außerdem sind auf Unionsebene in jüngerer Zeit speziell im Bereich des Datenrechts zahlreiche Rechtsakte vorgeschlagen (Entwurf der ePrivacy-Verordnung,11 der KI-Verordnung,12 des Data Act,13 der eIDAS-Verordnung 2.014) bzw. bereits erlassen worden (Data Governance Act,15 Digital Markets Act,16 Digital Services Act17), die (künftig) neben der europäischen Datenschutzgrundverordnung (DS-GVO), die seit dem 25.5.2018 unionsweit unmittelbar gilt (vgl. Art. 99 Absatz 2 DS-GVO),18 sowohl den Umgang mit personenbezogenen und nicht personenbezogenen Daten als auch die Tätigkeit solche Daten verarbeitender Dienste regeln.

Rn277

2.1. Die Vision Europas für den digitalen Wandel bis 2030

Der digitale Wandel – zum Teil bezeichnet als digitale Transformation –, der alle Aspekte des Lebens der Menschen betrifft, bietet zwar erhebliche Chancen für eine bessere Lebensqualität, Wirtschaftswachstum und Nachhaltigkeit.19 Allerdings bringt er ebenfalls neue Herausforderungen und Risiken für die demokratischen Gesellschaften und Volkswirtschaften Europas mit sich, denen erforderlichenfalls mit den entsprechenden politischen und/oder rechtlichen Instrumenten begegnet werden muss. Namentlich das Europäische Parlament hat sich wiederholt für die Einführung ethischer Grundsätze für den Ansatz des digitalen Wandels der EU eingesetzt und die Sicherstellung der uneingeschränkten Achtung der Grundrechte wie Datenschutz, Recht auf Privatsphäre, Nichtdiskriminierung und Geschlechtergerechtigkeit einerseits und der Grundsätze wie Verbraucherschutz, Technologie- und Netzneutralität, Vertrauenswürdigkeit und Inklusivität andererseits gefordert, sowie zur Stärkung des Schutzes der Nutzerrechte im digitalen Umfeld, der Arbeitnehmerrechte und des Rechts auf Nichterreichbarkeit aufgerufen.20

Rn278

2.2. Die Menschen im Mittelpunkt des digitalen Wandels

Die hohe Bedeutsamkeit einer „Menschenzentrierung“ beim digitalen Wandel hatte Kommissionspräsidentin von der Leyen am 01.06.2021 auf der Veranstaltung „Leading the Digital Decade“ mit den Worten “We believe in a human-centred digital transition. This is about who we want to be, as Europeans. …” herausgestellt.21 Die Haltung der EU-Kommission, die sich auch und besonders im Bereich der Regulierung von Künstlicher Intelligenz zeigt,22 liegt dabei auf einer Linie mit der der Datenethikkommission der Bundesregierung (DEK), die sich – ebenso wie die Enquete-Kommission Künstliche Intelligenz23 –, ebenfalls am Leitgedanken einer menschzentrierten und werteorientierten Gestaltung von Technologie orientiert.24

Rn279

3. Die Erklärung im Einzelnen

Die Erklärung fußt auf dem primären und sekundären Unionsrecht (v.a. dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union und dem Vertrag über die Europäische Union sowie der Charta der Grundrechte der Europäischen Union) und auf der ständigen Judikatur des Europäischen Gerichtshofs, sowie baut auf den Erfahrungen mit der europäischen Säule sozialer Rechte (ESSR)25 aus dem Jahr 2017 auf bzw. ergänzt diese.26 In Letzterer – einer Initiative der Europäischen Kommission ­– festgelegt sind 20 Grundsätze und Rechte, die zu fairen und gut funktionierenden Arbeitsmärkten beitragen, und in die drei Kapitel „Chancengleichheit und gleichberechtigter Zugang zum Arbeitsmarkt“, „faire Arbeitsbedingungen und Sozialschutz“ und „soziale Integration“ gegliedert sind.27 Die Erklärung ist überdies im Kontext früherer Initiativen des Rates zu sehen (s. dazu Erwägungsgrund 5 der Erklärung). Weiterhin ist sie ausdrücklich aus der Erwägung heraus entstanden, dass vom Weg der EU zum digitalen Wandel der europäischen Gesell- und Volkswirtschaften, – durch den diese dynamischer, ressourceneffizienter und fairer werden sollen –, die digitale Souveränität auf offene Weise, die Achtung der Grundrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, Inklusion, Barrierefreiheit, Gleichheit, Nachhaltigkeit, Resilienz, Sicherheit, Verbesserung der Lebensqualität, Verfügbarkeit von Diensten und Achtung der individuellen Rechte und Bestrebungen umfasst sind.28 In Entsprechung dieses Anspruchs sind nach Verständnis von Europäischem Parlament, Rat und EU-Kommission all jene zentralen Rechte und Grundsätze für den digitalen Wandel in der Erklärung verankert worden, die die Menschen in der EU in ihrem Alltag begleiten sollten.29 Dies dürfte einer Eurobarometer-Sonderumfrage Ende 2021 zufolge auch im Interesse derselben liegen: danach hatten es 82 Prozent der Europäerinnen und Europäer für sinnvoll gehalten, dass die Union eine gemeinsame europäische Vision für digitale Rechte und Grundsätze festlegt und fördert, um eine erfolgreiche digitale Transformation sicherzustellen.30

Rn280

3.1. Vorbemerkung

Welche digitalen Rechte und Grundsätze in der Erklärung Verankerung finden sollten, ist vorab in einer gesellschaftlichen Debatte erörtert worden. Im Zuge der öffentlichen Konsultation, die die EU-Kommission im Vorfeld der Veröffentlichung ihres Vorschlags für die Erklärung durchgeführt und bei der sie Ansichten zur Formulierung der Digitalgrundsätze im Hinblick auf die Förderung und Wahrung der EU-Werte im digitalen Raum zusammenzutragen hat,31 hatte etwa die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) – letztendlich leider erfolglos – die Aufnahme eines den rechtsstaatlichen Grundsätzen genügenden Schutzes des Mandatsgeheimnisses gefordert, um zu verhindern, „dass die praktischen Möglichkeiten, die die Digitalisierung eröffnet, zu einer Aushöhlung des normativen und rechtsstaatlichen Grundsatzes der Vertraulichkeit der Mandatskommunikation“ führten.32 Dabei ist die Forderung nicht auf die anwaltliche Verschwiegenheit beschränkt, sondern lässt sich vielmehr auf die Vertraulichkeit der Kommunikation auch zwischen Ärztinnen und Ärzten und anderen zur Geheimhaltung verpflichteten Berufsträgerinnen und -trägern mit ihren Mandantinnen und Mandanten, Patientinnen und Patienten etc. erstrecken.

Rn281

Kritisiert worden ist außerdem, dass die Erklärung kein „Recht auf Verschlüsselung“ postuliere, wobei speziell Kapitel V vor dem Hintergrund der derzeit rege diskutierten staatlichen Chatkontrolle bzw. einer Überwachung von Messengern zu recht als sehr unspezifisch formuliert und im Detail problematisch angesehen worden ist.33 Zu denken ist insoweit, auch mit Blick auf die Nummern 20 bis 22 der Erklärung, namentlich an die europäische Gesetzgebung zum Schutz von Kindern, insbesondere zur wirksamen Bekämpfung von Kindesmissbrauch.34

Rn282

Weiterhin unbeantwortet geblieben ist die Forderung nach einem „Grundrecht auf digitale Selbstbestimmung“. Dasselbe gilt mit Blick auf das bereits 2020 vom Europäischen Parlament geforderte „Recht auf Reparatur“, das – auch mit Blick auf den „European Green Deal“35 und das Paket „Fit für 55“36 – in Kapitel VI („Nachhaltigkeit“) hätte Anklang finden können.

Rn283

Zustimmung verdient ferner die Einschätzung, dass die Erklärung im Hinblick auf insbesondere den Umgang mit Künstlicher Intelligenz anstelle gewinnbringender Inhalte nur „schwammige Mindestanforderungen“ gespickt mit aus einschlägigen Debatten bekannten Buzzwords anführe.37

Rn284

Stark bezweifelt werden muss überdies, ob und inwieweit sich namentlich die in Kapitel II „Teilhabe und Inklusion“ festgeschriebenen Grundsätze überhaupt in der Praxis umsetzen lassen. Denn zusätzlich zu der Frage einer faktisch möglichen, ethisch vertretbaren und zugleich praxistauglichen Realisierung der überwiegend als bloße Maxime formulierten, nicht aber näher spezifizierten Grundsätze stellt sich das Problem der aufgrund der teils nur sehr vagen Formulierungen nicht unwahrscheinlichen unterschiedlichen Auslegung der einzelnen Digitalgrundsätze. Hingegen reagieren das Europäische Parlament, der Rat und die EU-Kommission mit der Erklärung insbesondere auf die Forderung nach einem „Recht auf Nichterreichbarkeit“ („right to disconnect“), das seit Längerem und zuletzt verstärkt durch die (pandemiebedingte) Zunahme von Homeoffice und Telearbeit auf Unionsebene diskutiert worden ist, und das für einen besseren Schutz von Arbeitnehmenden vor entsprechenden negativen Folgen sorgen soll.38

Rn285

Vorgesehen ist, dass die Umsetzung der in der Erklärung verankerten Digitalgrundsätze in der Praxis gemeinsam mit den Digitalisierungszielen der „Digitalen Dekade“ in einem jährlichen Fortschrittsbericht überwacht und außerdem jährlich eine Eurobarometer-Umfrage von der Europäischen Kommission durchgeführt wird, um die Folgemaßnahmen in den Mitgliedstaaten zu beobachten. Dabei sollen insbesondere qualitative Daten darüber erhoben werden, wie die praktische Umsetzung der Digitalgrundsätze von den inländischen Bürgerinnen und Bürgern wahrgenommen wird.39 Die EU-Kommission hat überdies zu bewerten, ob die Grundsätze in Ansehung technischer Entwicklungen im Laufe der Zeit überprüft werden müssen, und hat erforderlichenfalls einen entsprechenden Vorschlag vorzulegen.

Rn286

3.2. Inhalt der „Europäischen Erklärung zu den digitalen Rechten und Grundsätzen für die digitale Dekade“

Auch aufgrund der Beschleunigung des digitalen Wandels hat sich „die EU“ veranlasst gesehen, darzulegen, wie ihre Grundwerte und -rechte, die offline gelten, im digitalen Umfeld angewandt werden sollten.40 Dabei haben das Europäische Parlament, der Rat und die EU-Kommission eigenen Angaben zufolge mit ihrer gemeinsamen Erklärung nicht nur der vorgenannten Forderung nach einer stärkeren Beachtung der Grundrechte bei der digitalen Transformation entsprochen. Auf diese Weise soll insbesondere deutlich werden, dass die EU eine Werteunion ist (vgl. Art. 2 des Vertrags über die Europäische Union), die sich einerseits auf die Achtung der Menschenwürde, der Freiheit, der Demokratie, der Gleichheit, der Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören, und andererseits gemäß der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität gründet, wobei in der Charta auch die Rechte bekräftigt werden, die sich aus den gemeinsamen internationalen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten ergeben.41 Auch hätten sie dem Gedanken Ausdruck verliehen, dass der digitale Wandel keine Rückschritte bei den Rechten nach sich ziehen dürfe, sondern das, was außerhalb des Internets verboten sei, ebenfalls im Internet illegal sein sollte.42 Schließlich soll mit der Erklärung außerdem einer Reihe von Befunden – u.a. solchen zum Einsatz von Digitaltechnik, zu technologischen Durchbrüchen, zu pandemiebedingten Veränderungen der „digitalen Kluft“, zur steigenden Technik- und Datenverfügbarkeit einschließlich der hiermit korrelierenden Risiken und Auswirkungen für Bürgerinnen und Bürger, Demokratie und Sicherheit, sowie zu rechts- und freiheitserheblichen Abweichungen der Interaktion im On- und im Offline – Rechnung getragen werden.43

Rn287

Die in der gemeinsamen „Europäischen Erklärung zu den digitalen Rechten und Grundsätzen für die digitale Dekade“ von Europäischem Parlament, Rat und EU-Kommission vom Dezember 2022 im Einzelnen verankerten digitalen Rechte, Grundsätze und Selbstverpflichtungen in den eingangs genannten sechs Bereichen werden in Teil II des Beitrags vollständig wiedergegeben.

Rn288

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