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Zitiervorschlag: Altenbach, LRZ 2022, Rn. 681, [●], www.lrz.legal/2022Rn681.

Permanente Kurz-URL: LRZ.legal/2022Rn681

Der Regierungsentwurf des „Gesetzes für einen besseren Schutz hinweisgebender Personen sowie zur Umsetzung der Richtlinie zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden“ vom 27. Juli 2022 geht teilweise über die zugrunde liegende EU-Whistleblower-Richtlinie hinaus, nutzt aber in vielen Punkten nicht die Möglichkeit, die bestehende Rechtsprechung in kodifiziertes Recht zu überführen. Zudem lässt er hinweisgebende Personen, Betroffene und Unternehmen an vielen Stellen mit Kompromissen im Stich, die auf mittlere Sicht weitere Anpassungen erforderlich machen oder gar zu einem Vertragsverletzungsverfahren führen können.

1. Einführung

Die Regierungskoalition hat am 27. Juli 2022 den von dem Bundesminister der Justiz vorgelegten Entwurf eines Gesetzes für einen besseren Schutz hinweisgebender Personen beschlossen.1 Der Entwurf gilt gleichzeitig als Umsetzung der Richtlinie zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden, und holt das Versäumnis Deutschlands nach, diese sogenannte EU-Whistleblower-Richtlinie vom 23. Oktober 20192 umzusetzen (2019/1937, am 16.12.2019 in Kraft getreten). Weil die Frist zur Umsetzung am 17.12.2021 abgelaufen war, hatte die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland und 23 (!) weitere Mitgliedstaaten eingeleitet.3

Rn681

Zielsetzung des Gesetzentwurfs ist laut Gesetzesbegründung die wirksame und nachhaltige Verbesserung des bislang als nur lückenhaft und unzureichend empfundenen Hinweisgeberschutzes in Deutschland. Hinweisgeber4 leisteten einen wichtigen Beitrag zur Aufdeckung und Ahndung von Missständen, seien aber immer wieder Opfer von Repressalien geworden. Deshalb sollen solche Benachteiligungen nach dem Willen des Gesetzgebers zukünftig ausgeschlossen sein. Durch eine deutlich stärkeren Schutz sollen Hinweisgeber zudem zur Abgabe von Meldungen animiert werden.5

Rn682

Der Koalitionsentwurf soll nach der Sommerpause in den Bundestag eingebracht werden und man strebt ein Inkrafttreten noch im Jahr 2022 an. Positiv zu bewerten ist zunächst, dass der Gesetzgeber erkannt hat, wie wichtig der Schutz von Hinweisgebern ist und welche Vorteile Organisationen haben, wenn sie auf Fehlentwicklungen innerhalb der Organisation aufmerksam gemacht werden. Aus der sehr zögerlichen Umsetzung des Vorhabens, das auch im Koalitionsvertrag vom 6. Dezember 20216 explizit festgehalten ist, könnte man allerdings schließen, dass die politischen Kräfte stärker von der EU getrieben worden sind als aus eigenem Antrieb zu handeln.

Rn683

Der erste Blick auf den Gesetzesentwurf hinterlässt einen gemischten Eindruck. Auf der einen Seite geht der sachliche Anwendungsbereich über das europarechtlich Erforderliche hinaus. Auf der anderen Seite geht der Entwurf aber auch nicht weit genug: so bei den fehlenden Anreizen für interne Meldungen oder der Berücksichtigung der Motivation des Meldenden. Im Folgenden werden die wesentlichen Aspekte des Gesetzesentwurfs kurz dargestellt und analysiert.

Rn684

2. Verpflichtete des Hinweisgeberschutzgesetzes (HinSchG)

Entsprechend der EU-Whistleblower-Richtlinie sind Meldungen im Gesetzesentwurf anhand ihres Empfängers zu unterscheiden:

  1. interne Meldestellen
  2. externe Meldestellen
  3. die Öffentlichkeit

 

Rn685

Zur Einrichtung von internen Meldestellen sind bestimmte Organisationen verpflichtet, die im Gesetzesentwurf als Beschäftigungsgeber bezeichnet werden. Dies sind staatliche und private juristische Personen mit mehr als 50 Mitarbeitern sowie Gemeinden und Kommunen mit mehr als 10.000 Einwohnern. Verpflichtete ab 50 und mit weniger als 250 Mitarbeitern müssen erst zum 17.12.2023 einen vertraulichen internen Meldekanal einrichten. Für bestimmte Sektoren, wie Finanzdienstleister und Versicherer, gelten diese Einschränkungen und die Übergangsfrist nicht. Diese sind meist aber aufgrund entsprechender spezialgesetzlicher Regelungen im KWG, VVG oder GWG schon heute verpflichtet, ein Hinweisgebersystem vorzuhalten.

Rn686

Die Beschäftigtenzahl soll auf Basis eines Rückblicks auf die bisherige personelle Stärke und einer Einschätzung der zukünftigen Entwicklung festgestellt werden. Es wird keine Stichtagsbetrachtung durchgeführt.

Rn687

3. Sachlicher Anwendungsbereich

Der Entwurf des HinSchG-E bleibt bei einer über die europäischen Vorgaben hinausreichenden Umsetzung, doch wird diese im Vergleich zum Entwurf aus dem Jahr 20217 deutlich eingeschränkt. Waren im letztgenannten noch alle „Verstöße, die straf- oder bußgeldbewehrt sind“ erfasst, womit für den Nichtjuristen der Anwendungsbereich noch nachvollziehbar gewesen wäre, ist der Anwendungsbereich im aktuellen Entwurf deutlich enger. Es sind noch alle „Verstöße, die strafbewehrt sind“, erfasst, bloß bußgeldbewehrte Verstöße aber nur noch, „soweit die verletzte Vorschrift dem Schutz von Leben, Leib oder Gesundheit oder dem Schutz der Rechte von Beschäftigten oder ihrer Vertretungsorgane dient“ (§ 2 Abs. 1 Nr. 2 HinSchG-E). Wie weit reicht diese Einschränkung? Die Entwurfsbegründung gibt einen gewissen Hinweis: Es sei ausreichend, dass die Norm zum Schutz dieser Rechtsgüter beiträgt, ein Bezwecken sei nicht erforderlich. Dann werden exemplarisch nahezu alle Normen des Arbeitsrechts und auch das Sozialrecht in vielen Aspekten erfasst sein. Was nicht erfasst ist, bleibt jedoch unklar. Es wäre wünschenswert und für die Unternehmenspraxis hilfreich, wenn ein Negativkatalog in der Begründung eingefügt worden wäre.8 Neben diesen Rechtsbereichen ist eine Reihe von enumerativ aufgezählten und schwerpunktmäßig im Europarecht begründeten sowie steuerrechtlichen Regelungen im § 2 Abs. 1 HinSchG-E aufgelistet, ohne dass dort eine Rechtsfolge nach Straf- oder Ordnungswidrigkeitenrecht erforderlich ist.  

Rn688

Dieser rechtlich nicht eindeutige sachliche Anwendungsbereich bedeutet für Unternehmen und Hinweisgeber Unklarheiten, die dringend ausgeräumt gehören. Dazu ist nicht einzusehen, warum Ordnungswidrigkeiten zum Schutz der wirtschaftlichen Betätigung der Unternehmen nicht erfasst sein sollen. Denn Meldungen werden in aller Regel abgegeben, um die meldende Person, die Mitarbeiter sowie das Unternehmen als Arbeitgeber zu schützen.

Rn689

Diese Unschärfe wird durch § 3 Abs. 1 Nr. 2 HinSchG-E noch verstärkt. Dieser lautet wörtlich:

Rn690

„Verstöße sind Handlungen oder Unterlassungen im Rahmen einer beruflichen, unternehmerischen oder dienstlichen Tätigkeit, die

  1. rechtswidrig sind und die Vorschriften oder Rechtsgebiete betreffen, die in den sachlichen Anwendungsbereich nach § 2 fallen, oder
  2. missbräuchlich sind, weil sie dem Ziel oder dem Zweck der Regelungen in den Vorschriften oder Rechtsgebieten zuwiderlaufen, die in den sachlichen Anwendungsbereich nach § 2 fallen.“

 

Rn691

Wie schon bei § 5 Ziff. 3 GeschGehG, wo eine Offenlegung eines Geschäftsgeheimnisses nicht verboten ist, wenn die Offenlegung zum Schutz eines berechtigten Interesses erfolgt, insbesondere bei „Aufdeckung einer rechtswidrigen Handlung oder eines beruflichen oder sonstigen Fehlverhaltens, wenn die Erlangung, Nutzung oder Offenlegung geeignet ist, das allgemeine öffentliche Interesse zu schützen“, wird nicht rechtswidriges Verhalten, das mithin legal ist, quasi untersagt. Es reicht aus, dass ein Verhalten missbräuchlich ist bzw. ein öffentliches Interesse an der Aufdeckung eines Fehlverhaltens angenommen wird. Das geht über den rechtlichen Grundsatz, wonach nur das rechtswidrig ist, was nicht legal ist, hinaus. Vielmehr kann auch das aus Sicht des Meldenden nicht legitime Handeln eines Dritten Inhalt einer Meldung sein. In der Entwurfsbegründung findet sich dazu der Hinweis, dass mit dieser Regelung auch missbräuchliche Praktiken erfasst werden sollen. Es sollen die Fälle erfasst werden, die nach Erwägungsgrund 42 der EU-Whistleblower-Richtlinie eine ernsthafte Schädigung des öffentlichen Interesses darstellen oder befürchten lassen. Auch hier ist im Interesse der Betroffenen eine Klärung herbeizuführen.

Rn692

4. Wahlrecht zwischen interner und externer Meldung

Der Entwurf des HinSchG geht weiter von einer vollständigen Gleichwertigkeit der internen und externen Meldewege aus. Jede meldende Person hat die freie Wahl, ob sie sich zunächst an das Unternehmen oder direkt an eine externe Behörde wendet (vgl. § 7 Abs. 1 HinSchG-E). Dies ist eine wesentliche Veränderung zur aktuellen Rechtslage in Deutschland. Spätestens seit einem Urteil des BAG9 wird ein Vorrang des Versuchs der innerbetrieblichen Klärung als arbeitsvertragliche Nebenpflicht postuliert. Wegen der Pflicht des Arbeitsnehmers zur Loyalität und Vertraulichkeit müssen Informationen über Missstände im Unternehmen zunächst dem Vorgesetzen oder einer anderen betrieblichen Stelle gegeben werden. Eine Abkehr von diesem Prinzip ist weder durch die EU-Whistleblower-Richtlinie ausgelöst noch durch die Rechtsprechung des EGMR. Die Richtlinie enthält in Art. 7 Abs. 2 sogar eine ausdrückliche Aufforderung an die Mitgliedstaaten, sich für eine Bevorzugung von Meldungen über interne Kanäle einzusetzen. Im Gegensatz zu Meldungen über externe Kanäle kann bei den internen Hinweisen auch intern wirksam gegen den Verstoß vorgegangen werden, ohne dass der Hinweisgeber Repressalien befürchten muss. Leider fehlt dieses vom europäischen Gesetzgeber erwartete Bemühen vollkommen, was sowohl aus Sicht der bisherigen arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung als auch aus Sicht der Interessenlage der Beteiligten – Organisationen und deren Beschäftigte – ein Fehler ist.

Rn693

Unternehmen sind in erster Linie dann freiwillig motiviert, den Beschäftigten ein Hinweisgebersystem anzubieten, wenn dies Vorteile mit sich bringt. Ein wichtiger Vorteil bei internen Meldungen ist die Möglichkeit, eine interne Fehlentwicklung seitens des Unternehmens zu korrigieren, ohne parallelem Druck durch behördliche Ermittlungen und/oder Medienöffentlichkeit ausgesetzt zu sein. Für den Betriebsfrieden ist dies aus Sicht der Beschäftigten meist auch der gewünschte Weg.

Rn694

5. Vertraulichkeitsgebot

Der Regierungsentwurf enthält in § 8 HinSchG-E ein Vertraulichkeitsgebot, wonach die Meldestellen sicherzustellen haben, dass die Identität der involvierten Personen vertraulich behandelt werden. Das sind:

  • die hinweisgebenden Personen selbst,
  • die Personen, die Gegenstand der Meldung sind, sowie
  • diejenigen, die in der Meldung genannt sind.

 

Rn695

Die Identität darf nur den Personen, die die Meldestelle der Organisation betreiben und solchen, die für das Ergreifen von Folgemaßnahmen zuständig sind, und den hierbei unterstützenden Personen bekannt werden. Hierdurch werden die Persönlichkeitsrechte sämtlicher bei Abgabe einer Meldung betroffenen Personenkreise geschützt. In § 9 HinSchG-E finden sich dann einige wenige gebotene Ausnahmetatbestände, wie z.B. bei gerichtlichen, staatsanwaltlichen oder sonstigen Verwaltungsverfahren nach einer Meldung.

Rn696

6. Datenschutz, Dokumentation und Aufbewahrung

10 HinSchG-E enthält die notwendige Rechtsgrundlage für die Speicherung der Meldungen durch die Meldestelle, nicht durch andere Stellen in den Organisationen. Die Meldungen sind dabei gemäß § 10 HinSchG-E in dauerhaft abrufbarer Weise zu dokumentieren, in unterschiedlicher Weise, abhängig davon, ob die Meldung schriftlich, mündlich oder persönlich erfolgt. Die Dokumentation ist zwei Jahre nach Abschluss des Verfahrens zu löschen. Klärungsbedürftig bleibt insoweit, ob sich die Löschpflicht lediglich auf die Meldung selbst oder auf die gesamte Dokumentation im Zusammenhang mit der Meldung bezieht. Letzteres legt zumindest die Entwurfsbegründung nahe, die sich auf „Unterlagen zum Hinweisgeberverfahren“ bezieht. Weder der Wortlaut des § 11 Abs. 5 HinSchG-E noch die Entwurfsbegründung lassen erkennen, zu welchem Zeitpunkt von einem Abschluss des Verfahrens auszugehen ist. Es könnte sich dabei um den Abschluss von internen Untersuchungen handeln, aber auch um die Durchführung von Personalmaßnahmen oder die Beendigung von verbundenen Rechtsverfahren. Dafür ist eine rechtssichere Begriffsklärung durch den Gesetzgeber notwendig> Es ist angeraten, die Ausgestaltung der Löschfrist des § 11 Abs. 5 HinSchG-E mit den einschlägigen Verjährungsregelungen in Einklang zu bringen. Hier ist insbesondere die Regelverjährungsfrist gemäß § 195 Abs. 1 BGB von drei Jahren für etwaige Ansprüche aus einer durchgeführten Untersuchung oder aufgrund deren Einstellung aus Mangel an Beweisen von Bedeutung, welche mit Kenntnis der anspruchsbegründenden Tatsachen beginnt. Die Löschfrist von zwei Jahren führt mithin zu erheblichen Rechtsnachteilen für Organisationen, wenn Anspruchsteller innerhalb der Verjährungsfrist, aber nach Ablauf der Löschfrist von zwei Jahren rechtliche Schritte gegen die Organisation einleiten.

Rn697

7. Meldestellen und Meldekanäle

Die Entgegennahme und Bearbeitung von Meldungen können intern stattfinden oder outgesourced werden. Die §§ 12 ff. HinSchG-E enthalten detaillierte Regelungen zur Einrichtung und zum Betrieb einer internen Meldestelle.

Rn698

Essenziell ist die Unabhängigkeit der Meldestelle, die in § 15 HinSchG-E geregelt ist. Dabei ist es möglich, dass die hiermit betrauten Personen im Unternehmen auch andere Aufgaben und Pflichten wahrnehmen, wobei diese nicht zu Interessenkonflikten führen dürfen. Die Unabhängigkeit setzt mithin eine Weisungsungebundenheit für die Tätigkeit voraus, um auch die Vertraulichkeit der eingegangenen Meldungen sicherzustellen. Der Beschäftigungsgeber hat außerdem dafür Sorge zu tragen, dass die in der Meldestellte tätigen Personen über die notwendige Fachkunde verfügen.

Rn699

Die Organisationen sind vollkommen frei, wie sie die Meldekanäle einrichten, über die schriftliche, mündliche oder persönliche Meldungen abgegeben werden können. Zugänglich müssen die internen Meldekanäle für Beschäftigte und überlassene Leiharbeitnehmer sein. Freiwillig kann der Meldeweg auch natürlichen Personen offenstehen, die im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeiten mit der Organisation in Kontakt stehen. Das sind nach der EU-Whistleblower-Richtlinie insbesondere Beschäftigte von Lieferanten, Dienstleistern und Kunden. Die Meldestelle soll dazu auch anonym eingehende Meldungen bearbeiten, soweit vorrangig zu bearbeitende nicht-anonyme Meldungen hierdurch nicht benachteiligt werden. Die anonymen Hinweisgebenden fallen auch dann unter den Schutzbereich des HinSchG-E, wenn ihre zunächst verdeckte Identität bekannt wird.10 Dieser eingeschränkten Bearbeitung von anonymen Meldungen steht Art. 6 Abs. 3 der EU-Whistleblower-Richtlinie entgegen, der die Mitgliedstaaten ausdrücklich dazu auffordert, anonyme Meldungen zu ermöglichen. Aus Sicht der Unternehmen, die möglichst belastbare Inhalte durch Meldungen erhalten wollen, geht kein Weg an anonymen Meldungen vorbei, wie empirische Untersuchungen zeigen.11

Rn700

Die Regelung des § 14 HinSchG-E gibt den betroffenen Organisationen im Rahmen einer vorgeblich richtlinienkonformen Auslegung der Gesetzesbegründung hinreichend Flexibilität. Damit haben Konzernunternehmen innerhalb des Regulierungsrahmens von § 14 HinSchG-E die Wahl, ob sie einzelne Personen, eine interne Fachstelle oder Dritte mit den Aufgaben einer zentralen internen Meldestelle betrauen, insbesondere auch eine Stelle bei einer anderen Konzerngesellschaft, z. B. bei der Mutter-, Schwester- oder Tochtergesellschaft. Dazu gewährleistet diese Auslegung auch und gleichzeitig einen effektiven Whistleblower-Schutz, weil sich Hinweisgeber aus Tochtergesellschaften nach den Erfahrungen der Praxis meist wünschen, dass ihr Anliegen eine unabhängige Stelle in der Unternehmensgruppe näher untersucht und nicht eine lokale Stelle, die oft zu nah am Geschehen ist.12

Rn701

Diese Auslegung steht klar im Gegensatz zu den Ausführungen der Expertengruppe der EU-Kommission in drei Stellungnahmen.13 Das Kernargument der Kommission lautet, dass ein effizientes Meldesystem eine unmittelbare Nähe zum Hinweisgeber erfordert. Zwar könne die Konzernmutter durch eine entsprechende Informationskampagne im Endergebnis dafür Sorge tragen, dass de facto die meisten Meldungen zentral eingehen. Zentrale und lokale Meldesysteme könnten insofern nebeneinander bestehen. Die Kommission übersieht dabei jedoch, dass zentrale Systeme Kostenvorteile bringen. Das Nebeneinander von zentral und lokal nutzbaren Systemen führen wiederum zu Kostensteigerungen und erhöhter Komplexität. Dazu kommt, dass die erforderlichen Schnittstellen mit den Untersuchungseinheiten in der Gruppe sicherzustellen sind, und dass die notwendige Expertise und Erfahrung der verantwortlichen Mitarbeiter in lokalen, meist deutlich kleineren Einheiten nicht vorhanden sein können.14  

Rn702

8. Haftungsregelung und Beweislastumkehr

Der Regierungsentwurf sieht vor, dass der Hinweisgeber, der fahrlässig unrichtige Informationen meldet oder offenlegt, nicht schadensersatzpflichtig sein soll. Die Haftung beginnt erst bei grober Fahrlässigkeit. Dies dürfte eine weitergehende Privilegierung des Hinweisgebers gegenüber den Vorgaben der EU-Whistleblower-Richtlinie sein. Nach Art. 6 Abs. 1 Buchst. a bzw. Ar. 21 Abs. 2 und 7 der Richtlinie ist der Hinweisgebende auch bei einer unrichtigen Meldung oder Offenlegung geschützt, wenn diese Person hinreichenden Grund zu der Annahme hatte, dass die gemeldeten Informationen über Verstöße zum Zeitpunkt der Meldung der Wahrheit entsprachen. Der EGMR hat in der Entscheidung Gawlik ./. Liechtenstein noch im Februar 2021 entschieden, dass sich ein Hinweisgeber nicht auf den Schutz berufen kann, wenn er als Arzt nur in die elektronischen Patientenakten Einsicht genommen hat und die aktuelleren und detaillierteren Papierakten überhaupt nicht überprüft hat.15 Vor diesem Hintergrund sollte die Regelung in § 33 HinSchG-E nochmals kritisch überprüft werden.16

Rn703

Mit dem in § 36 HinSchG-E geregelten Verbot von Repressalien und der Beweislastumkehr in diesbezüglichen Verfahren setzt der Entwurf Art. 19 der EU-Whistleblower-Richtlinie um. Die Vorschrift bildet das Herzstück eines effektiven Whistleblower-Schutzes, der zu befürworten ist. Sie wird in der Praxis außerordentlich große Bedeutung erlangen und insbesondere von den Arbeitsgerichten weiter konkretisierend auszuprägen sein. Daher sollten die hierzu in der Entwurfsbegründung enthaltenen Hinweise17 klarstellend in den Gesetzestext überführt werden.

Rn704

Dies gilt zunächst für den sachlichen Anwendungsbereich der Beweislastumkehr, der durch den Begriff der Benachteiligung vorgegeben wird. Orientierung hierzu bietet die umfangreiche Aufzählung in Art. 19 der EU-Whistleblower-Richtlinie, auf die in der Entwurfsbegründung nochmals ausführlich eingegangen wird. Hier wäre eine Klarstellung sinnvoll, dass die dort genannten Maßnahmen nicht per se eine Benachteiligung darstellen. Vielmehr muss im Einzelfall dargelegt werden, dass sich eine Maßnahme für die hinweisgebende Person unter den konkreten Umständen als nachteilig darstellt: beispielsweise weil ein Anspruch auf Umwandlung eines befristeten in einen unbefristeten Vertrag bestanden hat, welche dann verweigert wurde.

Rn705

Maßgeblicher Grund für die Beweislastumkehr in § 36 Abs. 2 HinSchG-E ist die Annahme, dass die Partei, die eine nachteilige Maßnahme ergriffen hat, über alle Informationen und Unterlagen verfügt, die als Grundlage für die Maßnahme dienten.18 Dies ist aber nur der Fall, solange die Dokumentation nicht gemäß § 11 Abs. 5 HinSchG-E gelöscht ist. Sobald beispielsweise ein Beschäftigungsgeber die Dokumentation (rechtskonform) löscht, hat er nichts mehr in den Händen, um die Folgen der Beweislastumkehr abzuwehren. Dies sprich auch für eine Anpassung der Löschfristen (siehe bereits oben unter 6). Es stellt sich aufgrund des notwendigen Kausalzusammenhangs einer Repressalie gegen einen Beschäftigten und dessen früherer Meldung nach dem HinSchG-E die Frage, wie lange nach der Abgabe eines Hinweises und Abschluss des Verfahrens die Beweislastumkehr gelten soll. Dieser Zeitraum sollte nicht länger sein als die Aufbewahrungsfrist, damit den Organisationen eine Möglichkeit zur Beweisführung bleibt.

Rn706

9. Beratungsstelle für Hinweisgebende

DICO, Transparency International und eine Vielzahl weiterer Institutionen schlagen die Einrichtung einer eigenständigen und unabhängigen Einrichtung vor, die für Hinweisgebende, Unternehmen und externe Meldestellen Unterstützungsleistungen anbietet.

Rn707

Eine solche unterstützende Maßnahme sah die EU-Whistleblower-Richtlinie ausdrücklich vor, z.B. ein Angebot durch ein unabhängiges Informationszentrum (Art. 20 Abs. 3 EU-Whistleblower-Richtlinie). Hierzu findet sich in dem vorgelegten Entwurf keine entsprechende Regelung. Stattdessen soll die Beratung durch die externe Meldestelle erfolgen (§ 24 Abs. 2 HinSchG-E), die beim Bundesamt für Justiz mit 30 Stellen vorgesehen ist.

Rn708

Ein Beispiel hierfür ist das in den Niederlanden bestehende „House of Whistleblowers“. Ein solches Informationszentrum könnte insbesondere folgendes leisten:

  • Information und Beratung von (potentiellen) Hinweisgebenden zu Abhilfemöglichkeiten und dem Verfahren (§ 24 Abs. 2 HinSchG-E),
  • allgemeine Aufklärungsarbeit zur gesellschaftspolitischen Relevanz des Whistleblowings,
  • Förderung und Koordination von wissenschaftlicher Arbeit im Bereich Whistleblowing,
  • Involvierung bei der Erstellung von Standards (z. B. Untersuchungsleitfäden, Hinweise zur Gesprächsführung mit Hinweisgebern, Trainingsmaterialien) für Mitarbeiter interner und externer Meldestellen sowie
  • Bereitstellung von Geldmitteln für außerordentliche Härtefälle zur Rechtsverfolgung oder zur Kompensation19

 

Rn709

Mit dem Aufbau von Kompetenz, Know-how und Kapazität bei einer solchen Institution könnte Unternehmen für die Zukunft geholfen werden, Hinweisgebersysteme und Meldestellenverfahren zu entwickeln und zu professionalisieren. Dies würde helfen, das Anliegen hinweisgebender Personen effektiver und effizienter aufnehmen zu können.

Rn710

10. Fazit

Es ist zu konstatieren, dass der HinSchG-E der Koalitionsregierung in seiner jetzigen Fassung immer noch einigen Diskussions- und Anpassungsbedarf fordert. Leider haben nur sehr wenige Änderungen nach dem Konsultationsverfahren zum Referentenentwurf Eingang gefunden. Nicht von der Hand zu weisen ist, dass manches Problem, vor dem der deutsche Gesetzgeber steht, aber auch in der EU-Whistleblower-Richtlinie selbst begründet liegt. Durch den Willen, Schutzregeln für Hinweisgeber und organisatorische Vorgaben für die Organisation und den Prozess der sog. Meldestellen (einschließlich des Begriffs „Interne Untersuchungen“) in einem „Schwung“ zu regeln, kommt es zu mitunter unübersichtlichen Querbeziehungen zu anderen Regelungsmaterien.

Rn711

Mit einem eigenen „Stammgesetz“ setzt der Gesetzgeber die EU-Richtlinie in deutsches Recht um und misst dem Hinweisgeberschutz große Bedeutung zu. Mit der Beweislastumkehr wird den Hinweisgebenden grundsätzlich ein scharfes Schwert an die Hand gegeben. Es bleiben Regelungslücken und schwer zu erfassende Individualproblemstellungen, die durch Verwaltungspraxis und Rechtsprechung weiter ausgefüllt werden müssen.

Rn712

Trotz einiger verbleibender Unklarheiten in der Ausgestaltung des Gesetzes sind Unternehmen und Behörden gut beraten – soweit dies nicht schon die Praxis ist – umgehend damit zu beginnen, den Umgang mit Hinweisgebern und ihren Meldungen intern prozessual aufzunehmen und strategisch zu kommunizieren.

Rn713

 


 

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