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Zitiervorschlag: Zwickel, LRZ 2024, Rn. 738, [●], www.lrz.legal/2024Rn738.
Permanente Kurz-URL: LRZ.legal/2024Rn738
In Frankreich ist die digitale Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen schon seit 2019 beschlossene Sache. Auf Basis der in unserem Nachbarland gemachten Erfahrungen befasst sich der Beitrag mit den Leitfragen von Open Data von Gerichtsentscheidungen.
Digitale Daten werden bisweilen als das Öl des 21. Jahrhunderts bezeichnet. Dies gilt insbesondere auch für in Gerichtsentscheidungen enthaltene Daten, die KI-gestützten LegalTech-Einsatz erst in breitem Umfang ermöglichen. In Zusammenhang mit der Digitalisierung der Justiz wird daher zu Recht intensiv über eine umfassende Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen (Open Data) diskutiert. Während die Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“ eine Veröffentlichung aller Gerichtsentscheidungen, jedenfalls bis zur Verfügbarkeit eines digitalen KI-Anonymisierungstools, noch abgelehnt hatte,1 enthält der Koalitionsvertrag aus dem Jahr 20212 das Vorhaben, alle Gerichtsentscheidungen in Deutschland sollten künftig in maschinenlesbarer Form veröffentlicht werden. Diese Zielvorgabe ist eindeutig, es ist aber noch nicht klargestellt, wie der legislatorische, ethische und technische Rahmen einer Veröffentlichung aller Gerichtsentscheidungen aussehen könnte. Auf Basis eines rechtsvergleichenden Seitenblicks in das Nachbarland Frankreich, wo Open Data von Gerichtsentscheidungen bereits Realität ist, geht der Beitrag, nach einer Vorstellung der deutschen (1.) und der französischen Ausgangslage (2.), der Frage nach, welche Überlegungen im Rahmen der Umsetzung einer maschinenlesbaren Veröffentlichung aller Gerichtsentscheidungen anzustellen wären (3.).
Betrachtet man die Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen in Deutschland näher, fallen drei Punkte auf: Für eine digitale Weiterverarbeitung von Entscheidungsinhalten in größerem Umfang werden aktuell viel zu wenige Gerichtsentscheidungen veröffentlicht (1.1). Einer der Gründe hierfür liegt in der aufwändigen manuellen Anonymisierung der Gerichtsentscheidungen (1.2). Auch findet keine in sich konsistente Auswahl zu veröffentlichender Entscheidungen statt (1.3.). Es wird aber bereits ganz konkret daran gearbeitet, diesen Befund zeitnah zu verändern (1.4.).
In Deutschland wird zwar bereits heute eine grundsätzliche Veröffentlichungspflicht für Gerichtsentscheidungen aus Staatsstrukturprinzipien (Rechtsstaatsgebot einschließlich Justizgewähranspruch, Demokratiegebot und Grundsatz der Gewaltenteilung) hergeleitet.3 Nur eine sehr verschwindend geringe Teilmenge der Gerichtsentscheidungen wird aber in Deutschland überhaupt veröffentlicht.4 Auch in Deutschland wurde zwar eine systematische Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen unlängst andiskutiert.5 Eine Antwort auf diese Frage wurde aber zurückgestellt bis eine befriedigende Lösung für die schwierigen Anonymisierungsproblematik gefunden ist.6 Aktuell hängt also jeglicher Fortschritt in Richtung Open Data von Gerichtsentscheidungen von der Lösung der Herausforderung der Anonymisierung ab.
In Deutschland erfolgt vor einer Veröffentlichung nämlich regelmäßig eine umfassende Anonymisierung bzw. Neutralisierung gerichtlicher Entscheidungen, in der alle personenbezogenen Daten unkenntlich gemacht werden.7 Bereits die rechtlichen Hintergründe dafür aber sind nicht ausreichend geklärt. Als Grundlage der Anonymisierung und Neutralisierung von Gerichtsentscheidungen wird einerseits das allgemeine Persönlichkeitsrecht in seiner Ausprägung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung8 und andererseits das Datenschutzrecht angeführt.9 Bejaht man mit der herrschenden deutschen Auffassung10 eine Pflicht zur Anonymisierung und Neutralisierung von Gerichtsentscheidungen, sind alle Namen und sonstigen Angaben, die eine sachlich nicht gebotene Identifizierung der Verfahrensbeteiligten ermöglichen könnten, unkenntlich zu machen11 – ein digital nicht ganz triviales Unterfangen.12 Einheitliche, standardisierte Leitlinien für eine Anonymisierung existieren über diese vagen Vorgaben hinaus nicht.
Wenig einheitlich ist auch die Auswahl der zu veröffentlichenden Gerichtsentscheidungen. Eine Veröffentlichung im Internet findet sich nur für die obersten Gerichtshöfe des Bundes und das Bundesverfassungsgericht. Instanzgerichtliche Entscheidungen werden entweder von Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten oder Richterinnen und Richtern an Zeitschriften übersandt oder von den Anbietern bei Gericht angefordert. Es erfolgt mithin gerade keine Auswahl nach Relevanzkriterien. Das erklärt auch, dass sich in bestimmten Rechtsgebieten in Zeitschriften überwiegend Rechtsprechung findet, die nur für eine der Parteien günstig ist.
Als Hauptkriterium für die Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen fungiert im deutschen Recht das Kriterium der Veröffentlichungswürdigkeit.13 Maßgeblich für die Veröffentlichungswürdigkeit ist nach der Rechtsprechung die Sicht der Publikationsempfänger. Diese müssen kein konkretes tatsächliches Interesse nachweisen. Vielmehr genügt das Vorhandensein eines mutmaßlichen Interesses der Rechtssuchenden an Information.14 Dieses mutmaßliche Interesse soll im Zweifel zu bejahen sein.15 Es ist der Entscheidende, der aus seiner subjektiven Warte heraus über die Veröffentlichungswürdigkeit befindet. Dieses Kriterium der Veröffentlichungswürdigkeit wurde im analogen Raum weitgehend als erforderlich angesehen, um angesichts begrenzter Verlagskapazitäten, Anonymisierungsmöglichkeiten und teurer Speichermöglichkeiten eine Auswahl zu treffen. Im digitalen Zeitalter wird dieses Kriterium vielfach als obsolet angesehen.16 Begründet wird das mit einer Unbestimmtheit des Begriffs,17 einer Verzerrung des Datenbestandes18 und einer Entziehung der Kontrollmöglichkeit durch die Kontrollierten selbst. In Zeiten der Digitalisierung mit Möglichkeiten maschinellen Lernens, die große Datenbestände erfordern, sind alle gerichtlichen Entscheidungen veröffentlichungswürdig.19
Der Koalitionsvertrag aus dem Jahr 202120 sieht ausdrücklich vor, dass perspektivisch alle Entscheidungen in maschinenlesbarer Form veröffentlicht werden sollen:
„Gerichtsentscheidungen sollen grundsätzlich in anonymisierter Form in einer Datenbank öffentlich und maschinenlesbar verfügbar sein.“
Realisiert ist das bislang noch nicht. In mehreren Projekten (Bayern21, Baden-Württemberg und Hessen22, BMBF23, wird vielmehr an einer KI-gestützten Anonymisierung von Gerichtsentscheidungen gearbeitet, die Voraussetzung einer Veröffentlichung sein soll. Teils handelt es sich dabei um Eigenentwicklungen mit Mitteln der Justiz, teils um Kooperationen mit kommerziellen Anbietern. Erstaunlich ist, dass die einzelnen Bundesländer Parallelprojekte betreiben, anstatt gemeinsam an einer länderübergreifenden Lösung zu arbeiten.
In Frankreich wies die Praxis der Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen in der analogen Welt große Ähnlichkeiten zum deutschen System auf. Entscheidungen wurden bislang nur in Einzelfällen veröffentlicht. Datenbankanbieter konnten aber auch bisher schon kostenpflichtig digitalen Zugang zur Datenbank JuriCa24 mit den (nicht anonymisierten) Entscheidungen der Cour de Cassation und der Cours d´appel (Berufungsgerichte) erhalten.
Ganz andere Wege als Deutschland schlägt aber unser Nachbarland Frankreich in Sachen „Open Data von Gerichtsentscheidungen“ ein. Diesbezüglich ist uns Frankreich weit voraus. Seit der großen französischen Justizreform aus dem Jahr 201925 werden in Frankreich, nach einem festen Zeitplan, nach und nach alle französischen Gerichtsentscheidungen in digitaler Form und maschinenlesbar der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Festgelegt ist dies in Art. 33 des Gesetzes vom 23. März 2019.26 Der genaue Zeitplan für diese Maßnahmen wurde am 28. April 2021 veröffentlicht27 und seitdem mehrfach angepasst. Er ist wie folgt gestaltet:
Schon seit 30. September 2021 werden alle zivil- und strafrechtlichen Entscheidungen der Cour de Cassation veröffentlicht. Die Cour de Cassation hat dafür die Seite Judilibre28 eingerichtet, auf der nach und nach alle Entscheidungen der ordentlichen Gerichtsbarkeit (ordre judiciare) eingestellt werden sollen.
Im Verwaltungsrecht war für das Höchstgericht (Conseil d´Etat) ebenfalls der 30. September 2021 der maßgebliche Stichtag. Für den verwaltungsgerichtlichen Bereich hat der Conseil d´Etat ebenfalls bereits eine zentrale Plattform in Betrieb genommen.29
Seit dem 31. März 2022, werden alle Berufungsentscheidungen im Verwaltungsrecht (Entscheidungen der Cours administratives d´appel) öffentlich zugänglich gemacht.
Seit 30. April 2022 werden die zivil-, sozial- und handelsrechtlichen Entscheidungen (décisions civiles, sociales et commerciales) der Cours d’appel (Äquivalent der Oberlandesgerichte), seit 30. Juni 2022 die der tribunaux administratifs (Verwaltungsgerichte) veröffentlicht.
Seit 22. Dezember 2023 werden zusätzlich sukzessive alle ab dem 15. Dezember 2023 ergangenen Entscheidungen einiger erstinstanzlicher Gerichte (Tribunaux judiciaires) in den Bereichen des Zivil-, Sozial- und Handelsrechts veröffentlicht. Pilotiert wird die Veröffentlichung an den Tribunaux judiciaires Bobigny, Bordeaux, Lille, Lyon, Marseille, Paris, Rennes, Saint-Denis-de-La-Réunion und Versailles (Décret vom 18. Dezember 202330). Zum Jahresende 2024 rechnet die Cour de Cassation mit etwa 300.000 jährlich zu veröffentlichenden Entscheidungen.31 Erstmalig werden auch Entscheidungen der Eingangsinstanzen veröffentlicht. Damit hat Frankreich eine neue Etappe auf dem Weg zur Veröffentlichung aller Gerichtsentscheidungen beschritten.
Bis 31. Dezember 2025 folgen, in weiteren Teilschritten, alle Entscheidungen der übrigen Bereiche, insbesondere auch die strafrechtlichen Urteile.
Eng mit der Frage nach einer Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen verbunden ist die Thematik der Anonymisierung gerichtlicher Entscheidungen. So ist es erforderlich, dass sich personenbezogene Daten aus Urteilen, jedenfalls nicht in größerem Umfang, in veröffentlichten Entscheidungen wiederfinden. Algorithmen könnten sonst gegebenenfalls unerwünschte Schlussfolgerungen z.B. in Bezug auf ein Entscheidungsverhalten eines konkreten Richters, vornehmen. Der französische Gesetzgeber sichert dies durch zwei unterschiedliche Herangehensweisen ab.
Die französischen Bestimmungen enthalten zunächst Vorgaben zur Anonymisierung der Gerichtsentscheidungen.32 Zwingend ist jedoch nur ein absolutes Mindestmaß an Anonymisierung. So sind (nur) Namen und Vornamen von Parteien und Dritten vor der Veröffentlichung zwingend auszublenden. Die Pflicht zur Anonymisierung beschränkt sich auf Angaben zu natürlichen Personen. Eine darüber hinausgehende Anonymisierung sehen die maßgeblichen Bestimmungen33 nur für den Fall der Bejahung eines besonderen öffentlichen Interesses an der Geheimhaltung der Daten vor. Ein solches ist anzunehmen, wenn ohne Anonymisierung die Sicherheit oder die Privatsphäre natürlicher Personen betroffen wären. Diese Ausnahmevorschriften sind auf persönliche Daten anzuwenden, die eine Identifizierung der Parteien, Dritter, der Richter/-innen und des Personals der Geschäftsstellen (greffe) ermöglichen. Zuständig ist für eine derartige, über das Mindestmaß hinausgehende Anonymisierung der Vorsitzende bzw. der streitentscheidende Richter.34 Ist Gerichtspersonal betroffen, wird die Einzelfallentscheidung vom Gerichtspräsidenten getroffen. Jedermann kann darüber hinaus eine weitere Anonymisierung oder die Aufhebung einer über die gesetzlichen Mindestanforderungen hinausgehenden Anonymisierung bei der Cour de cassation oder dem Conseil d´Etat beantragen.35
In Frankreich werden zwar Gerichtsentscheidungen grundsätzlich in sehr großen Umfang bereitgestellt. Die Datenverwendung ist aber nicht uneingeschränkt möglich. Ergänzt werden die Bestimmungen zur Anonymisierung von Gerichtsentscheidungen nämlich durch strafbewährte Verbote auf Ebene der Datenauswertung.36 Es ist nicht gestattet, Identitätsdaten von Richtern bzw. Geschäftsstellenpersonal mit dem Ziel weiterzuverarbeiten, ihr tatsächliches oder vermutetes berufliches Verhalten zu analysieren, zu vergleichen oder vorherzusagen. Verstöße gegen diese Unterlassungspflicht stellen Straftaten nach Art. 226-18, 226-24 und 226-31 des französischen Code pénal dar.37
Frankreich ist Deutschland in Sachen Open Data von Gerichtsentscheidungen sehr weit voraus. Schon 2019 wurde in Frankreich entschieden, dass nach einem fest vorgegebenen Zeitplan nach und nach alle Gerichtsentscheidungen veröffentlicht werden sollen. Frankreich setzt also im Bereich der Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen einerseits auf größtmögliche Transparenz sowie andererseits auf strikte gesetzliche Vorgaben, die der schwierigen Abwägung von Persönlichkeitsrechten mit Transparenzerwägungen Rechnung tragen sollen. Die Frage nach der Anonymisierung von Gerichtsentscheidungen wird somit nicht den Entscheiderinnen und Entscheidern übertragen, sondern zu großen Teilen vom Gesetzgeber selbst beantwortet.
Inhaltlich geht die in Deutschland vorgenommene Anonymisierung und Neutralisierung weiter als die gesetzlichen Vorgaben des französischen Rechts es vorsehen. Frankreich ist hinsichtlich der Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen zwar deutlich weiter als Deutschland, realisiert aber auch einen geringeren Schutz der Daten der Prozessbeteiligten. In Kauf nehmen lässt sich dies vor dem Hintergrund der deutlich knapperen Begründung französischer Gerichtsentscheidungen, die dadurch auch geringeres Potenzial einer (Re-)Identifizierung von Parteien oder Dritten bergen als deutsche Urteile.
Die französische Regelung hat den Vorteil, bezüglich der rechtlichen Verankerung der Anonymisierung für Klarheit zu sorgen. Inhaltlich bleibt sie aber hinter den für das deutsche Recht bisher anerkannten Standards zurück.
In der französischen Rechtspraxis ist die maschinenlesbare Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen bereits Realität.
Sie erfolgt über spezielle Datenbanken, die bei den jeweiligen obersten Gerichtshöfen angesiedelt sind. Diese werden von den beiden obersten Gerichtshöfen zentral für ganz Frankreich betrieben:
Die Cour de cassation hat nach eigenen Angaben bereits ein KI-gestütztes Anonymisierungstool mit einer Richtigkeitsquote von 99 % bei den verpflichtend zu anonymisierenden Eigennamen der Parteien im Einsatz.38 Annotationsmöglichkeiten ermöglichen korrigierende Eingriffe in die maschinell vorgenommene Anonymisierung der zu veröffentlichenden Gerichtsentscheidungen.39
Rein rechtlich beschränkt sich die Anonymisierung von Gerichtsentscheidungen in Frankreich zwar auf bestimmte Grundmerkmale (Namen und Anschriften natürlicher Personen). Das erkennende Gericht kann aber über diese Grundanonymisierung hinausgehen. Diese weitergehende Anonymisierung wird in der französischen Praxis grundsätzlich genutzt. Die Cour de cassation hat den Berufungsgerichten (Cours d´appel) und den Gerichten der Eingangsinstanz (Tribunaux judiciaires) Leitlinien übermittelt, die zusätzliche Anonymisierungsempfehlungen für bestimmte Streitgegenstände aussprechen.40 So soll sich z. B. im Familienrecht die Anonymisierung auch auf Namen juristischer Personen erstrecken, um Rückschlüsse auf natürliche Personen zu vermeiden.41
In der Praxis belässt es Frankreich also keineswegs bei der im Gesetz angelegten rudimentären Anonymisierung, sondern wägt in einzelnen Rechtsmaterien das Informationsinteresse der Öffentlichkeit mit dem Schutz der Persönlichkeitsrechte ab.
Schon seit längerer Zeit florieren in Frankreich Angebote, die mit Hilfe statistischer Methoden Gerichtsentscheidungen auswerten42 und auf Basis vorhandener Daten Vorhersagen für die Zukunft treffen.43 Schon heute ist es – allerdings ohne verlässliche Nachprüfbarkeit der Ergebnisse – in Frankreich möglich, sich bezogen auf den Bezirk von Cours d´appel Erfolgswahrscheinlichkeiten für bestimmte Streitgegenstände ausgeben zu lassen. Bei einem genaueren Blick auf die Angebote zeigt sich, dass sie momentan mit der relativen kleinen Menge an Gerichtsentscheidungen der Berufungsgerichte seit 2005 auf Basis der Datenbank JuriCa operieren und trainiert werden. Zukünftig dürfte sich das, angesichts der nun massenhaft zur Verfügung stehenden auch erstinstanzlichen Gerichtsentscheidungen schnell und entscheidend ändern.
Im Zentralstaat Frankreich bietet es sich, anders als in Deutschland mit umfangreichen Zuständigkeiten der Bundesländer für die Justizorganisation an, auf eine landesweit einheitliche Datenbank zur Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen zu setzen. Mit Légifrance44 existiert eine solche Datenbank, in der Verfassungstexte, völkerrechtliche Verträge, Gesetze, Gerichtsentscheidungen und Amtsblätter bereits seit 1999 zentral veröffentlicht werden. Für die 2019 beschlossene umfassende Veröffentlichung aller Gerichtsentscheidungen (Open Data) setzt Frankreich aber nicht auf Légifrance, sondern auf zwei jeweils für ganz Frankreich nutzbare, weitere Datenbanken. Die Aufspaltung in zwei Datenbanken ist Ausdruck der in Frankreich angelegten strikten Trennung von Verwaltungs- und ordentlicher Gerichtsbarkeit. In der Datenbank Judilibre werden alle Gerichtsentscheidungen des ordre judiciaire (Zivil- und Strafgerichte, Handelsgerichte, Arbeitsgerichte, Sozialgerichte) veröffentliche. Es wird für Judilibre mit etwa 300.000 zu veröffentlichenden Entscheidungen pro Jahr gerechnet.45 Die Datenbank Open Data de la justice administrative enthält, ebenfalls digital und maschinenlesbar die Entscheidungen der Verwaltungsgerichtsbarkeit (ordre administratif).
In Frankreich hat man mittlerweile erkannt, dass es nicht reicht, alle Gerichtsentscheidungen ungeordnet in einer zentralen Datenbank bereitzustellen. Daher flankieren drei Maßnahmen die Veröffentlichung aller Gerichtsentscheidungen in Frankreich:
All diese Überlegungen zum Umgang mit einer vollumfänglichen Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen im Internet bilden den Ausgangspunkt für ein Nachdenken über Leitfragen einer künftigen Ausgestaltung von Open Data von Gerichtsentscheidungen in Deutschland. Dazu wollen wir uns in die für Deutschland noch hypothetische Situation versetzen, in der alle Entscheidungen digital und in maschinenlesbarer Form veröffentlicht werden. Es liegt auf der Hand, dass eine solche digitale Veröffentlichung aller Gerichtsentscheidungen neben den Vorteilen der besseren maschinellen Auswertbarkeit und einer Erhöhung der Transparenz auch Nachteile haben kann. Insbesondere besteht die Gefahr der Förderung einer „Präjudizienpublizität“49 und eines Überschusses an Informationen. Es reicht nicht, Gerichtsentscheidungen einfach nur massenhaft im Internet verfügbar zu machen. Vielmehr muss die umfassende Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen durch ethische, technische und rechtliche Überlegungen vorbereitet werden. Stets ausgehend von der Situation in unserem Nachbarland Frankreich, soll hier, entlang mehrerer Leitfragen, eine solche Diskussion zur Anonymisierung (3.1.), zur technischen Realisierung (3.2), zum Umgang mit evtl. Veränderungen der Rechtsprechungstätigkeit (3.3. und 3.4.), zur Vermeidung eines (vermeintlichen) information overload (3.5.) und zur Notwendigkeit ethischer Leitlinien für die Weiterverwendung der Entscheidungsdaten (3.6.) angeregt werden.
Angesichts der Rechtslage in Frankreich mit einer auf das Wesentliche beschränkten „Basisanonymisierung“ stellt sich die Frage, ob es in Deutschland wirklich zwingend ist, alle personenbezogenen Daten aus zu veröffentlichenden Entscheidungen zu entfernen. Schließlich wird nach § 169 Abs. 1 S. 1 GVG in aller Regel öffentlich verhandelt und die Namen und Daten der Parteien sind in den Verhandlungen ebenfalls zu hören und den Sitzungsaushängen zu entnehmen.50
Ganz unabhängig von der hier aus Platzgründen nicht weiter zu erörternden, aus höherrangigem Recht resultierenden Anonymisierungspflicht,51 sei auf zwei Aspekte hingewiesen:
Seit langem wird in Deutschland gefordert, für die digitale Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen solle die Schaffung einer kostenfreien, bundeseinheitlichen Datenbank55 erfolgen. Selbst in Frankreich ist das nicht gelungen. Dort erfolgt die Veröffentlichung in zwei getrennten Datenbanken für die juridictions judiciaires und die juridictions administratives. Wichtiger als der zentrale Ort der Veröffentlichung erscheint aber ohnehin ein einheitliches Format, d. h. ein XML56- oder JSON57-Download aller Gerichtsentscheidungen und eine einheitliche Speicherung von Kategorien von Metadaten. Für den Bereich der Cour de Cassation werden folgende Metadaten systematisch zu jeder Entscheidung gespeichert:58
jurisdiction (Gericht), chamber (Spruchkörper), formation (Zusammensetzung des Spruchkörpers), number (Aktenzeichen), ecli (European Case Law Identifier), publication (Fundstelle), solution (Entscheidungstenor), decision_date (Datum), text (Volltext der Entscheidung – unformatiert), zones (strukturierte Darstellung des Entscheidungsinhalts – introduction, exposé du litige, moyens, motivations, dispositif et moyens annexés), themes (kurze thematische Bezeichnung), summary (Kurzzusammenfassung), files (Weitere Dokumente – communiqué, note explicative, traduction, rapport, avis de l'avocat général, etc.), visa (Rechtsnormen), rapprochements (Entscheidungen, die bestätigt wurden oder ähnlich sind).
Betrachtet man die praktische Umsetzung der digitalen Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen in Frankreich zeigt sich, dass diese zwar sehr schnell realisiert wurde. Sie ist aber nur halbherzig ausgeführt:
Vor einer zu schnellen Umsetzung der Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen ohne vorherige Standardisierung kann daher in Deutschland nur gewarnt werden.
Eine systematische Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen wird perspektivisch zu einer deutlich größeren Bedeutung instanzgerichtlicher Entscheidungen führen. Das verändert nicht zwingend die Qualität. Durch die pure Masse der Entscheidungen der Instanzgerichte werden deren Urteile, deren Entscheidungspraxis und auch behandelte Rechtsgebiete aber künftig sichtbarer.59 Steuert man im Rahmen von Open Data von Gerichtsentscheidungen nicht bewusst dagegen, z. B. durch eine Stärkung der Rolle der Revisionsgerichte, wird sich, aufgrund der puren Masse an Entscheidungen der erstinstanzlichen Gerichte, die bisherige vertikale Steuerung der Rechtsprechung durch Entscheidung der Höchstgerichte hin zu einer vertikal ausgerichteten Rechtsprechung entwickeln. Dies in zweierlei Hinsicht:
Eine umfassende Veröffentlichung aller Gerichtsentscheidungen würde – gemessen an derzeitigen Maßstäben – unweigerlich zu einer ungewollten Überbetonung erstinstanzlicher Entscheidungen führen. Wird Open Data von Gerichtsentscheidungen Realität, ist also darauf zu achten, dass keine tiefgehende Änderung des Rechtsprechungssystems im Sinne einer faktischen Präjudizienbindung62 eintritt. Andererseits wird das klassische, rein vertikal und auf Rechtsfragen ausgerichtete System künftig nicht mehr in Reinform aufrechtzuerhalten sein. Zu Recht wird die Herstellung der Balance zwischen bisherigem und künftigem System in Frankreich aktuell als „Herausforderung eines geordneten Pluralismus“63 bezeichnet.
Die negativen Folgen einer Präjudizienpublizität64 lassen sich durch Absicherung der normativen Wirkung höchstrichterlicher Entscheidungen abfedern. Falsche Tendenzen aufgrund (nicht zutreffender) Präjudizien anderer Instanzgerichte lassen sich so frühzeitig korrigieren.65 Das Auffinden solcher klärungsbedürftiger Rechtsprechungstendenzen wird künftig kein Problem mehr sein. Der Diesel-Abgasskandal hat aber deutlich gezeigt, dass die Parteien eines Zivilprozesses oft kein Interesse an der Klärung von Grundlagenfragen haben. Wird die Revision zurückgenommen bzw. das Revisionsverfahren sonst einvernehmlich beendet, besteht keine Möglichkeit der Klärung von Grundsatzfragen mehr. In Zusammenhang mit Open Data von Gerichtsentscheidungen wird in Frankreich deshalb die Erleichterung der Anwendungsvoraussetzungen von zwei Instrumenten diskutiert,66die der Cour de cassation frühzeitige Grundsatzentscheidungen ermöglichen:
In Deutschland steht momentan das sog. Leitentscheidungsverfahren auf der politischen Agenda.68 Auch in durch Revisionsrücknahme oder anderweitig erledigten Revisionsverfahren soll der BGH ein Verfahren auswählen und per Beschluss gleichwohl eine Leitentscheidung treffen können, wenn die aufgeworfenen Rechtsfragen für eine Vielzahl anderer Verfahren von Bedeutung ist. Es setzt jedoch, da das Verfahren bereits in der Revisionsinstanz angelangt sein muss, anders als die o. g. französischen Instrumente, erst zu einem relativ späten Zeitpunkt an. Ermöglicht werden müsste zudem, dass der Anwendungsbereich für eine Leitentscheidung bereits dann eröffnet wird, wenn sich auf Basis von Open Data eine bestimmte Tendenz der Instanzgerichte ermitteln lässt.69
Geeignete Instrumente müssen also sicherstellen, dass es auch bei Open Data von Gerichtsentscheidungen noch zu Grundsatzentscheidungen des BGH kommen kann, ehe sich eine (falsche) Tendenz der Instanzgerichte verfestigt.
In Zusammenhang mit der Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen wird häufig die Frage aufgeworfen, ob denn tatsächlich alle instanzgerichtlichen Entscheidungen veröffentlicht werden sollten. Hingewiesen wird dann darauf, dies würde zu einer völligen Überfrachtung führen und man könnte in seinem solchen Fall „den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen“. Im Ausgangspunkt ist das zutreffend, will man auf Basis einer Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen doch juristisch aussagekräftige Ergebnisse erzielen. Statt mit dem Argument eines information overload die digitale Veröffentlichung instanzgerichtlicher Entscheidungen pauschal abzulehnen, soll im Nachfolgenden die Möglichkeit einer Ordnung des Entscheidungsmaterials diskutiert werden.
Anders als im Rahmen der momentanen Selektion veröffentlichungswürdiger Entscheidungen durch Gericht und anschließend noch durch Datenbank- bzw. Zeitschriftenanbieter wird die vollständige Menge instanzgerichtlicher Entscheidungen niemand lesen oder auch nur erfassen können. Eine Auswertung könnte nur durch KI erfolgen. Diese Auswertungen sollten aber nicht ungesteuert erfolgen. Vielmehr sollten schon bei Bereitstellung der Urteilsdaten Merkmale eingeführt werden, die die Auswertung an das geltende Rechtssystem anlehnen.
Würde man alle Gerichtsentscheidungen in eine zentrale Datenbank einspeisen, könnte sich im Rahmen der späteren Auswertung ein Widerspruch zur Hierarchie der Gerichtsorganisation ergeben. Mit anderen Worten könnte KI, im Rahmen des Trainings mit einer Vielzahl an Gerichtsentscheidungen, die Gängigkeit einer bestimmten juristischen Lösung eines Falles annehmen. Eine Nichtberücksichtigung der Gerichtshierarchie könnte dann dazu führen, dass ober- und höchstgerichtlichen Entscheidungen (insbesondere wegen deren geringerer Fallzahl) nicht entsprechend ihrem Gewicht berücksichtigt werden könnten. Mit anderen Worten würde sich eine Präjudizienpublizität statt einer Leitentscheidungskompetenz der Höchstgerichte entwickeln. Es bietet sich deshalb, wie in Frankreich vorgeschlagen,70 an, die Hierarchie der Gerichtsorganisation im Rahmen der Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen in Metadaten mit abzubilden. Die aus dem analogen juristischen Denken bekannte Berücksichtigung von Gerichtshierarchien (höheres Gewicht ober- und höchstgerichtlichen Entscheidungen für Rechtsanwender/-innen) würde sich dann auch im Rahmen der digitalen Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen niederschlagen. Diese könnten ggf. automatisiert als „überholt“ gekennzeichnet werden. Das bedeutet aber nicht, dass diese Entscheidungen dann bedeutungslos werden. Ein Interesse an Entscheidungsdaten besteht nämlich gerade auch auf Ebene der Instanzgerichte. Zu Recht wird daher in Frankreich Kritik an einer Hierarchisierung der Gerichtsentscheidungen im herkömmlichen Sinn angemeldet.71 Vielmehr sind zusätzlich zur Hierarchie weitere Relevanzkriterien einzuziehen, um die Potenziale von Open Data nicht zu verschenken.
Durch weitere Kriterien ließe sich der im deutschen Recht sehr verbreitete massenhafte Verweis auf bestätigende Entscheidungen aus gleichen Instanzen vermeiden.
Im Zuge der Veröffentlichung würde Gerichtspersonal Marker für folgende Fälle setzen:
Diese Marker spiegeln das mit Gerichtsentscheidungen verbundene dogmatische Interesse wider. Veröffentlichte Gerichtsentscheidungen machen Abweichungen von der Rechtslage de lege lata deutlich oder verstärken bestimmte Rechtsanwendungs- bzw. Auslegungsergebnisse. Diese Markierung würde also dafür sorgen, dass künftig nicht mehr einfach ungeordnet auf bestätigende Entscheidungen Bezug genommen wird.
Soweit sich Entscheidungen mit Fragen der Beweiswürdigung bzw. einer Bewertung von Tatsachenstoff befassen, bieten sie weniger Anlass für eine systematische Auswertung. Auch eine bloße Subsumtionsdatenbank weist aber immerhin den Mehrwert auf, dass sich regionale Unterschiede in der Rechtsprechung aufdecken lassen und aufgrund der Vielzahl einzubeziehender Fälle eine Prozessrisikoanalyse erleichtert wird.72
Zusätzlich bietet es sich an, in die Veröffentlichungsstruktur von Gerichtsentscheidung an stets identischer Stelle eine Kurzzusammenfassung des Streitgegenstands aufzunehmen. In Frankreich soll künftig ein sog. sommaire erstellt werden.73 Die Cour de cassation stellt dieses Metadatum schon heute zu allen Entscheidungen bereit. Aus dieser Kurzzusammenfassung kann nämlich eine Art Übersicht über die Probleme identischer Streitfälle entstehen. So wird, auf Basis von Open Data von Gerichtsentscheidung verständlich, wie sich die Entscheidungen zu einer bestimmten Problematik weiterentwickelt haben. Vielfach zeigt sich nämlich, dass zunächst um eine bestimmte Frage gestritten wird. Im weiteren Verlauf und unter Beteiligung höherer Instanzen verlagert sich der Streit dann auf weitere Punkte. Bei Betrachtung des Diesel-Abgasskandals wird dies sehr gut deutlich: Zunächst drehte sich die die gerichtliche Praxis um zahlreiche Einzelfragen und es entwickelte sich auf Ebene der Land- und Oberlandesgerichte ein „Flickenteppich“ an Lösungen.74 Erst relativ spät, nach der Grundsatzentscheidung des BGH,75 schwenkte die Rechtsprechung klar auf Fragen zu § 826 BGB ein.76 Aktuell zeigt sich wieder eine stärkere Verästelung hin zu unions- und schadensrechtlichen Fragen.77 Eine mit der Entscheidungsveröffentlichung verkoppelte Verdeutlichung des Hauptproblems anhand eines Stichworts hätte frühzeitig ermöglicht, Rechtsprechungstendenzen zu erkennen.
Eine französische Untersuchung hat, auf manueller Basis und in anderer Sache, z. B. folgende „Landkarte“ ergeben, die die Streitentwicklung deutlich macht.78 Die einzelnen schwarzen und farbigen Punkte stehen dabei für je eine Entscheidung einer bestimmten Frage. Zu ausgegrauten Punkten des Schemas ist erst zu einem späteren Zeitpunkt eine klarstellende Entscheidung ergangen.
Grafik von Henry, bit.ly/3Y97WBt (Stand: 28.07.2024):
Noch ausgereiftere Visualisierungen lassen sich in Zeiten von Open Data von Gerichtsentscheidungen erreichen. Aktuell wurde dies etwa auf Basis des Zitationsnetzwerks des Bundesverfassungsgerichts realisiert.79 Durch ein solches topic modeling80 lassen sich künftig die Themen der Konflikte der Parteien frühzeitig, bereits auf Ebene der Instanzgerichte identifizieren. Es ist daher davon abzuraten, instanzgerichtliche Entscheidungen aus Datenbanken faktisch zu entfernen und diese als überholt zu kennzeichnen sobald eine Entscheidung dazu im Rechtsmittelverfahren ergangen ist. Auch und v. a. instanzgerichtlichen Entscheidungen dürfte künftig ganz besondere Bedeutung zukommen.81
In Zeiten des elektronischen Rechtsverkehrs ist es schwierig, wenn für identische Gerichtsentscheidungen unterschiedliche Zitierweisen (Zitat nach Zeitschriftenfundstelle bzw. Zitat mit Datum und Aktenzeichen) verwendet werden. Ein solches Vorgehen führt dazu, dass die entsprechende Entscheidung in Datenbanken nicht gefunden werden kann. Diese Problematik wird sich, sollte es zu einer einheitlichen Datenbank für die Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen kommen, noch verschärfen. Schließlich ist auch nicht einzusehen, warum Gerichtsentscheidungen in Zeitschriften zitiert werden sollten, jedoch in identischer Form und im Volltext maschinenlesbar auf der vom Staat zur Verfügung gestellten Veröffentlichungsplattform (automatisiert) einsehbar sind. Mit der Einführung eines für die Veröffentlichung der Gerichtsentscheidungen verwendeten Systems müsste daher zugleich ein taugliches Referenzierungssystem im Sinne einer zwingend zu verwendenden einheitlichen Zitierweise und Verlinkung für/von Gerichtsentscheidungen Einzug halten.
Für eine leichtere, auch inhaltliche Auswertbarkeit der veröffentlichten Gerichtsentscheidungen sollte zudem erwogen werden, Gerichtsentscheidungen stärker als bisher zu strukturieren. Intensiv wird im Rahmen der Bemühungen um eine Digitalreform des Zivilprozesses momentan über eine Strukturierung der Parteischriftsätze nachgedacht.82 Sollen nun perspektivisch digitale Daten in größerem Stil aus Gerichtsentscheidungen gewonnen werden, müsste die Paralleldiskussion in Bezug auf Gerichtsentscheidungen geführt werden. Auch diese sind deutlich leichter zu erschließen, wenn sie über die bisher existenten Aufbauvorgaben auch eine einheitliche, inhaltsorientierte Binnenstruktur aufweisen. Es ist nämlich davon auszugehen, dass KI dort leistungsfähiger ist, wo das maschinelle Lernen in fest vorgegebenen, strukturierten Bereichen stattfindet. In Frankreich soll intensiv an einer einheitlichen Darstellung der Gerichtsentscheidungen gearbeitet werden.83 Auch für Deutschland könnte, analog zur Strukturierung des Parteivortrags nach bestimmten Strukturierungskriterien,84 auch eine Strukturierung des inhaltlichen Teils von Gerichtsentscheidungen in Erwägungen gezogen werden.
Angesichts unproblematisch möglicher Abfragen von Massen an Entscheidungsdaten geht man in Frankreich davon aus, dass die Weiterverwendung dieser Daten einer Regelung zugeführt werden muss.85 Es wird deshalb an Ethikleitlinien gearbeitet, die sicherstellen sollen, dass sich die Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen in einem ethisch gut vertretbaren Rahmen bewegt.86
Damit soll den mit einer umfassenden Entscheidungspublikation verbundenen Risiken eines Profilings (3.6.1.1.), des Ankereffekts (3.6.1.2.), einer Entwertung der juristischen Argumentation (3.6.1.3.) und des data poisoning (3.5.1.4.) begegnet werden.
Im Rahmen von Open Data von Gerichtsentscheidungen besteht stets die Gefahr, dass Legal Tech-Tools nicht nur dafür genutzt werden, die Wahrscheinlichkeit gerichtlicher Entscheidungen zu prognostizieren, sondern auch Aussagen über die beteiligten Akteure zu treffen. Dass dies keine Utopie ist, zeigen französische Erfahrungen mit Auswertungen in Asylverfahren, die teils eklatante Unterschiede zwischen einzelnen Spruchkörpern zutage gefördert haben.87 Schon heute ist daher in Frankreich die Auswertung gerichtlichen Verhaltens von Richtern und Geschäftsstellenangestellten verboten. Ob ein strafbewehrtes Verbot aber ausreicht und angesichts der unproblematischen Realisierbarkeit einer solchen Auswertung und angesichts von Beweisschwierigkeiten nicht eher eine rein abschreckende Maßnahme ist, darf bezweifelt werden.88 Gleichwohl ist aber die Gefahr, dass Angehörige von Spruchkörpern und auch Anwälte in Zeiten von Big Data Opfer von diskriminierenden Veröffentlichungen oder Hasskampagnen werden, nicht zu unterschätzen. Es sollte daher erwogen werden, den Auswertenden von Entscheidungsdaten eine Verpflichtung im Hinblick auf einen seriösen Umgang mit den Entscheidungsdaten aufzuerlegen.
Es besteht, bei Verfügbarwerden leistungsfähiger, KI-gestützter Entscheidungsassistenzsysteme, das Risiko, dass sich Rechtsanwenderinnen und Rechtsanwender und insbesondere Richterinnen und Richter blind an Vorentscheidungen bzw. Entscheidungsprognosen auf KI-Basis orientieren (Automation Bias).89 Es wird daher in Frankreich vorgeschlagen, dieser Problematik frühzeitig, d. h. bereits mit der Etablierung von Open Data von Gerichtsentscheidungen, durch Schulungen aller Akteure zu begegnen.90 Besonders bemerkenswert ist, dass Schulungen im Umgang mit massenhaft veröffentlichten Gerichtsentscheidungen schon im Rahmen der universitären Juristenausbildung stattfinden sollen.91 Einzelne französische Anbieter von KI-gestützten Legal Tech-Tools engagieren sich in diese Richtung seit längerer Zeit in der juristischen Ausbildung.92
Eine französische Arbeitsgruppe schlägt vor, dass nach dem Austausch von Schriftsätzen eine echte Diskussion zwischen Gericht und Parteien zu Vorentscheidungen ähnlicher Streitsachen stattfinden soll.93 Genutzt werden soll dafür ein informeller Erörterungstermin zu Beginn eines Gerichtsverfahrens.
Zudem soll ein nationales Gremium gegründet werden, das sich laufend mit der Ausgestaltung der Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen und damit verbundenen Risiken befasst. Dieser unter der Leitung der Cour de Cassation stehende Conseil des données judiciaires ouvertes soll mit Richterinnen und Richtern aller Gerichtszweige, Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten, Staatsanwältinnen und Staatsanwälten, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie Vertreterinnen und Vertretern von Legal Tech Unternehmen besetzt werden.94
Mittlerweile wurde beim zuständigen Dokumentationsservice der Cour de cassation95ein Comité stratégique chargé de réfléchir à la mise en œuvre de l’open data eingerichtet, das mit Vertretern der Cour de cassation, zwei Präsidenten von tribunaux judiciaires, einem Präsidenten/einer Präsidentin eines Berufungsgerichts (Cour d’appel), einem geschäftsleitenden Direktor eines Gerichts (directeur des services de greffe judiciaires) und drei Vertreter/-innen des Justizministeriums besetzt ist.96 Das Comité soll die Veröffentlichung auch erstinstanzlicher Urteile begleiten und Leitlinien, etwa für die Anonymisierung, erarbeiten.
Auch für Deutschland bietet es sich an, Chancen zum Dialog der Rechtspraktiker über den Inhalt früherer Gerichtsentscheidungen noch stärker als bisher (z. B. im Rahmen des § 139 ZPO) zu institutionalisieren und Gremien einzurichten, in denen alle Akteure der Rechtspraxis vertreten sind.
Kommt es zur Weiterverwendung von Entscheidungsdaten ist ganz besonders auf Authentizität und Integrität der verwendeten Entscheidungen zu achten. Werden Entscheidungsdaten in großem Umfang zu Trainingszwecken für KI-Systeme verwendet, besteht ein ernstzunehmendes Risiko der Manipulation dieser Daten (data poisoning).97 Dem kann etwa durch digitale Signatur des Entscheidungsmaterials in Public Key-Infrastrukturen begegnet werden.98
Die Cour de Cassation geht für die Bereitstellung der Entscheidungsdaten über ihre API-Programmierschnittstelle einen ähnlichen Weg. Die Nutzung der API-Schnittstelle kann erst nach Registrierung auf der Plattform Piste99 erfolgen, die der französische Staat für alle staatlichen API-Schnittstellen zur Nutzung bereitstellt. Auf dieser Plattform werden auch die für die Nutzung der Schnittstelle erforderlichen Keys vergeben.
Über diese Gewährleistung der Datenintegrität und -authentizität hinaus sollten Speicherdauern vorab, d. h. schon vor der Veröffentlichung, für bestimmte Zeit auf dem Regelungsweg sichergestellt werden.
Es ist in Frankreich keine ausgemachte Sache, dass all diese Vorgaben perspektivisch gesetzlich geregelt werden sollen. Denkbar ist es vielmehr auch, auf eine Charta, eine Selbstverpflichtung der Anbieter durch Verhaltensregeln nach Art. 40 f. DSGVO, auf ein Zertifizierungssystem für kommerzielle Nutzer von Entscheidungsdaten oder – wohl am aufwändigsten – auf eine unabhängige Kontrollbehörde zu setzen.100 Diesbezüglich bietet sich, auch für Deutschland, eine Verkopplung mit den im Rahmen der KI-Verordnung gebotenen Maßnahmen an.
Die Kernthesen des Beitrags lassen sich in Thesenform wie folgt zusammenfassen: