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Zitiervorschlag: Lorenz, LRZ 2023, Rn. 289, [●], www.lrz.legal/2023Rn289.

Permanente Kurz-URL: LRZ.legal/2023Rn289

Im zweiten Teil der dreiteiligen Beitragsreihe wird die „Europäische Erklärung zu den digitalen Rechten und Grundsätzen für die digitale Dekade“ in ihrer unterzeichneten Fassung (15.12.2022) vorgestellt.

1. Einleitung

Im Folgenden wird die gemeinsame „Europäische Erklärung zu den digitalen Rechten und Grundsätzen für die digitale Dekade“ von Europäischem Parlament, Rat und EU-Kommission – deren politische und rechtliche Hintergründe einerseits und Entstehungsprozess einschließlich Kritik andererseits in Teil I des Beitrags nachvollzogen worden sind – in ihrer unterzeichneten Fassung (15.12.2022) vorgestellt.1

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Die Erklärung gliedert sich in sechs Kapitel: (I.) Die Menschen im Mittelpunkt des digitalen Wandels, (II.) Solidarität und Inklusion, (III.) Wahlfreiheit, (IV.) Teilhabe im digitalen öffentlichen Raum, (V.) Sicherheit, Schutz und Befähigung und (VI.) Nachhaltigkeit.

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1.1. Kapitel I – Die Menschen im Mittelpunkt des digitalen Wandels

Kapitel I der Erklärung stellt ausdrücklich die Menschen in den Mittelpunkt des digitalen Wandels in der EU, wobei namentlich die Technik allen in Europa lebenden Menschen dienen und zugutekommen und sie in die Lage versetzen sollte, ihre Ziele und Bestrebungen in voller Sicherheit und unter uneingeschränkter Achtung ihrer Grundrechte zu verwirklichen. Das Europäisches Parlament, der Rat und die EU-Kommission haben sich insoweit sowohl verpflichtet, den demokratischen Rahmen für einen digitalen Wandel zu stärken, der allen zugutekomme und das Leben aller in der EU lebenden Menschen verbessere, als auch die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, damit die Werte der EU und die im EU-Recht anerkannten Rechte des Einzelnen sowohl online als auch offline geachtet würden. Außerdem haben sie sich verpflichtet, das verantwortungsvolle und sorgfältige Handeln aller öffentlichen und privaten Akteure im digitalen Umfeld zu fördern und zu gewährleisten sowie diese Vision des digitalen Wandels auch in den internationalen Beziehungen aktiv zur Geltung zu bringen.

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1.2. Kapitel II – Solidarität und Inklusion

Kapitel II der Erklärung betrifft spezifisch die Aspekte „Solidarität und Inklusion“. Dort festgeschrieben ist, dass die Technik dafür genutzt werden sollte, die Menschen zu vereinen, nicht zu spalten. Weiterhin sollte der digitale Wandel zu einer gerechten und inklusiven Gesellschaft und Wirtschaft in der EU beitragen – was sich, wie in Teil I unter II. 1. angemerkt, zwar vielversprechend liest, in der praktischen Umsetzung aber erhebliche (faktische) Herausforderungen mit sich bringt. Zur Verwirklichung dieser Maximen haben sich Europäisches Parlament, Rat und EU-Kommission verpflichtet, zum einen dafür zu sorgen, dass bei der Konzeption, Entwicklung, Einführung und Nutzung technischer Lösungen die Grundrechte geachtet, ihre Anwendung ermöglicht und Solidarität und Inklusion gefördert würden, und zum anderen, einen digitalen Wandel anzustreben, bei dem niemand zurückgelassen wird. Denn der digitale Wandel sollte allen zugutekommen, zur Gleichstellung der Geschlechter führen und insbesondere ältere Menschen, Menschen in ländlichen Gebieten, Menschen mit Behinderungen und benachteiligte, schutzbedürftige oder entrechtete Menschen sowie diejenigen, die in deren Namen handeln, einbeziehen. Gefördert werden sollte außerdem die kulturelle und sprachliche Vielfalt. Außerdem von der Selbstverpflichtung umfasst ist die Schaffung angemessener Rahmenbedingungen, damit alle Marktteilnehmer, die vom digitalen Wandel profitierten, auch ihrer sozialen Verantwortung gerecht würden und zum Vorteil aller in der EU lebenden Menschen einen fairen und verhältnismäßigen Beitrag zu den Kosten öffentlicher Güter, Dienstleistungen und Infrastrukturen leisteten. In diesem Zusammenhang zu sehen sind v.a. die Debatte um eine „Digitalabgabe“/„Digitalsteuer“ (gemeint ist eine spezielle (Mindest-)Besteuerung der digitalen Wirtschaft, besonders großer Digitalkonzerne wie Google und Meta)2 und die Diskussion zur „Netzneutralität“ (d.h. der ungehinderten und diskriminierungsfreien Übermittlung aller Datenpakete – ganz gleich woher sie stammen und unabhängig vom konkreten Empfänger und Inhalt), zu der sich das Europäische Parlament, der Rat und die Kommission klar zu bekennen scheinen. Denn in Kapitel II ist ferner festgeschrieben, dass zur Gewährleistung von Konnektivität alle Menschen überall in der EU Zugang zu einer erschwinglichen und schnellen digitalen Netzanbindung haben sollten. Insoweit haben sich das Europäische Parlament, der Rat und die Kommission verpflichtet, den Zugang zu einer hochwertigen Netzanbindung mit einem verfügbaren Internetzugang für alle, auch für einkommensschwache Menschen, überall in der EU zu gewährleisten sowie ein neutrales und offenes Internet zu schützen und zu fördern, in dem Inhalte, Dienste und Anwendungen nicht ungerechtfertigt gesperrt oder beeinträchtigt werden – was mit Blick auf die vorgenannten Ausführungen zur „Schaffung angemessener Rahmenbedingungen“ nachvollziehbar als widersprüchlich erachtet wird.3 Der ehemalige Präsident des Europäischen Parlaments Sassoli hatte sich schon 2018 dafür eingesetzt, den Zugang zum Internet zu einem Menschenrecht zu machen (ein solches „Menschenrecht“ wird mit der Erklärung aber gerade nicht statuiert, dazu sogleich in Teil III). Auch Kommissionspräsidentin von der Leyen hatte den „universellen Zugang zum Internet“ in ihrer Rede vom 1.6.2021 betont.

Rn292

Festgeschrieben ist ferner das Recht einer jeden Person auf allgemeine und berufliche Bildung sowie lebenslanges Lernen und dass ein jeder die Möglichkeit haben sollte, alle grundlegenden und fortgeschrittenen digitalen Kompetenzen zu erwerben. Entsprechend haben sich das Europäische Parlament, der Rat und die EU-Kommission verpflichtet, eine hochwertige digitale allgemeine und berufliche Bildung zu fördern (auch im Hinblick auf die Überwindung der digitalen Kluft zwischen den Geschlechtern), Bemühungen zu unterstützen, um allen Lernenden und Lehrkräften die Möglichkeit zu geben, alle erforderlichen digitalen Fähigkeiten und Kompetenzen, einschließlich Medienkompetenz, sowie kritisches Denken zu erwerben und auszutauschen, damit sie sich aktiv an der Wirtschaft, der Gesellschaft und an demokratischen Prozessen beteiligen können sowie Bemühungen um die Ausstattung aller Einrichtungen der allgemeinen und beruflichen Bildung mit digitalen Netzanbindungen, Infrastrukturen und Instrumenten zu fördern und zu unterstützen und überdies allen Menschen die Möglichkeit zu geben, sich durch Weiterqualifizierung und Umschulung an die Veränderungen anzupassen, die sich aus der Digitalisierung der Arbeit ergeben. Des Weiteren verankert worden ist das Recht einer jeden Person auf faire, gerechte, gesunde und sichere Arbeitsbedingungen und einen angemessenen Schutz im digitalen Umfeld wie am physischen Arbeitsplatz, und zwar unabhängig vom Beschäftigungsstatus und der Art oder Dauer der Beschäftigung. Betont wird dabei die wichtige Rolle der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände beim digitalen Wandel, v.a. in Bezug auf die Festlegung fairer und gerechter Arbeitsbedingungen und im Hinblick auf die Nutzung digitaler Instrumente am Arbeitsplatz. Entsprechend haben sich das Europäische Parlament, der Rat und die EU-Kommission zum einen verpflichtet, dafür zu sorgen, dass alle Menschen in einem digitalen Umfeld die Möglichkeit haben, nicht erreichbar zu sein und in den Genuss von Schutzvorkehrungen für die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben zu kommen, und zum anderen sicherzustellen, dass digitale Instrumente im Arbeitsumfeld die körperliche und geistige Gesundheit der Arbeitnehmer in keiner Weise gefährdeten. Obendrein haben sie sich verpflichtet, die Achtung der Grundrechte der Arbeitnehmer – einschließlich ihres Rechts auf Privatsphäre und auf Vereinigungsfreiheit, ihres Rechts auf Kollektivverhandlungen und -maßnahmen sowie auf Schutz vor unrechtmäßiger und ungerechtfertigter Überwachung – im digitalen Umfeld zu gewährleisten, sowie dafür zu sorgen, dass der Einsatz von Künstlicher Intelligenz am Arbeitsplatz transparent sei und (wie im Vorschlag für die europäische KI-Verordnung4) einem risikobasierten Ansatz folge; außerdem, dass entsprechende Präventionsmaßnahmen ergriffen würden, um ein sicheres und gesundes Arbeitsumfeld zu erhalten sowie insbesondere sicherzustellen, dass die menschliche Aufsicht bei wichtigen Entscheidungen, die Arbeitnehmende betreffen, gewährleistet sei und dass die Arbeitnehmenden darüber informiert würden, dass sie mit Systemen der Künstlichen Intelligenz interagierten (siehe in diesem Zusammenhang auch die in Kapitel III verankerten Rechte und Grundsätze die Interaktion mit Algorithmen und Systemen der Künstlichen Intelligenz betreffend).

Rn293

Eigens in Kapitel II „geregelt“ worden sind ferner die digitalen öffentlichen Dienste. Weil jede Person über einen Online-Zugang zu wichtigen öffentlichen Diensten in der EU verfügen sollte und niemand aufgefordert werden dürfe, Daten beim Zugang zu digitalen öffentlichen Diensten und bei deren Nutzung öfter als erforderlich anzugeben, haben sich das Europäische Parlament, der Rat und die Europäische Kommission verpflichtet, dafür zu sorgen, dass alle in der EU lebenden Menschen die Möglichkeit erhielten, eine barrierefreie, freiwillige, sichere und vertrauenswürdige digitale Identität zu nutzen, die den Zugang zu einem breiten Spektrum von Online-Diensten ermögliche, sowie eine breite Zugänglichkeit und Weiterverwendung von Informationen des öffentlichen Sektors sicherzustellen und überdies einen nahtlosen, sicheren und interoperablen Zugang zu digitalen öffentlichen Diensten, die den Bedürfnissen der Menschen wirksam gerecht würden, einschließlich von insbesondere digitalen Gesundheits- und Pflegediensten, in der gesamten EU zu erleichtern und zu unterstützen (wozu auch der Zugang zu elektronischen Patientenakten gehöre). Eine „digitale Identität für alle Europäer/innen“ („trusted and secure European e-ID“) in diesem Sinne hatte die EU-Kommission bereits vor einigen Jahren angekündigt einzuführen.5

Rn294

1.3. Kapitel III – Wahlfreiheit

Kapitel III der Erklärung betrifft die Interaktion mit Algorithmen und Systemen der Künstlichen Intelligenz einerseits und die Sicherstellung eines fairen digitalen Umfelds andererseits. Während der erstere Teil insbesondere in der Zusammenschau mit dem vorgenannten Kapitel und der geplanten europäischen KI-Verordnung6 zu sehen sind, ist der Teil zum „fairen digitalen Umfeld“ zwar seiner Thematik nach grundsätzlich neu, allerdings im Kontext der EU-Standardisierungspolitik7 zu sehen.8

Rn295

Künstliche Intelligenz sollte als Instrument für die Menschen dienen und letztendlich das menschliche Wohlergehen verbessern. Weiterhin sollte jede Person von den Vorteilen von Algorithmen und Systemen der Künstlichen Intelligenz profitieren können – auch durch eigene fundierte Entscheidungen im digitalen Umfeld – und gleichzeitig vor Risiken und Beeinträchtigungen in Bezug auf die eigene Gesundheit und Sicherheit sowie die Grundrechte geschützt sein. Entsprechend haben sich das Europäische Parlament, der Rat und EU-Kommission verpflichtet, auf den Menschen ausgerichtete,9 vertrauenswürdige und ethische Systeme der Künstlichen Intelligenz während ihrer gesamten Entwicklung, Einführung und Nutzung im Einklang mit den Werten der EU zu fördern, für ein angemessenes Maß an Transparenz in Bezug auf den Einsatz von Algorithmen und Künstlicher Intelligenz zu sorgen sowie sicherzustellen, dass die Menschen diese nutzen könnten und im Hinblick auf die Interaktion mit diesen gut informiert seien. Außerdem haben sie sich verpflichtet dafür zu sorgen, dass algorithmische Systeme auf angemessenen Datensätzen beruhen, damit Diskriminierung vermieden wird, sowie die menschliche Aufsicht über all jene Ergebnisse zu ermöglichen, die die Sicherheit und die Grundrechte der Menschen betreffen; außerdem, dafür zu sorgen, dass Technologien wie Künstliche Intelligenz nicht dazu genutzt würden, die Entscheidungen der Menschen vorwegzunehmen, z.B. in Bezug auf Gesundheit, Bildung, Beschäftigung und ihr Privatleben. Von der Selbstverpflichtung umfasst ist ferner das Treffen von Vorkehrungen und das Ergreifen geeigneter Maßnahmen, – auch durch die Förderung vertrauenswürdiger Standards –, damit künstliche Intelligenz und digitale Systeme jederzeit sicher sind und unter uneingeschränkter Achtung der Grundrechte genutzt werden können, sowie solcher Maßnahmen, die sicherstellten, dass bei der Forschung im Bereich von Künstlicher Intelligenz die höchsten ethischen Standards und das einschlägige EU-Recht eingehalten werden. Außerdem sollte jede Person die Möglichkeit haben, auf der Grundlage objektiver, transparenter, leicht verfügbarer und zuverlässiger Informationen selbst frei zu entscheiden, welche Online-Dienste sie nutzen will und ob sie sich an fairem Wettbewerb und Innovation im digitalen Umfeld beteiligen möchte, was auch den Unternehmen, einschließlich KMU, zugutekommen sollte. Entsprechend haben sich das Europäische Parlament, der Rat und die EU-Kommission verpflichtet, für ein sicheres digitales Umfeld auf der Grundlage eines fairen Wettbewerbs zu sorgen, in dem sowohl die Grundrechte geschützt werden, die Nutzerrechte und der Verbraucherschutz im digitalen Binnenmarkt gewährleistet sind und die Verantwortlichkeiten der Plattformen, insbesondere großer Akteure und Gatekeeper, genau festgelegt sind, als auch Interoperabilität, Transparenz, offene Technologien und Normen als Möglichkeit zu fördern sind, das Vertrauen in die Technologie sowie die Fähigkeit der Verbraucher, autonome und fundierte Entscheidungen zu treffen, weiter zu stärken.

Rn296

1.4. Kapitel IV – Teilhabe im digitalen öffentlichen Raum

Kapitel IV hat die „Teilhabe im digitalen öffentlichen Raum“ zum Gegenstand. Darin vorgesehen ist zunächst, dass jede Person Zugang zu einem vertrauenswürdigen, vielfältigen und mehrsprachigen digitalen Umfeld haben sollte, weil die Zugänglichkeit vielfältiger Inhalte zu einer pluralistischen öffentlichen Debatte und einer wirksamen und diskriminierungsfreien Teilhabe an der Demokratie beitrage. Benannt ist außerdem das Recht jeder Person auf freie Meinungsäußerung und Informations- sowie auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit im digitalen Umfeld. Weiterhin sollte jede Person Zugang zu Informationen darüber haben, wer die von ihr genutzten Mediendienste besitzt oder kontrolliert – was v.a. im Hinblick auf die Erhaltung der Anonymität im Netz und eine eventuelle Klarnamenpflicht von Domaininhabern kritisch gesehen worden ist10.

Rn297

Außerdem in Kapitel IV festgeschrieben worden ist, dass insbesondere sehr große Online-Plattformen eine freie demokratische Debatte im Internet unterstützen sollten. Denn angesichts der Rolle ihrer Dienste für die öffentliche Meinungsbildung und den öffentlichen Diskurs sollten sie – auch im Hinblick auf Fehlinformationen und Desinformationskampagnen – die Risiken mindern, die sich aus der Funktionsweise und Nutzung ihrer Dienste ergäben, sowie die Meinungsfreiheit schützen. In diesem Kontext bedeutsam ist der am 16.6.2022 veröffentlichte, überarbeitete Verhaltenskodex der EU gegen Desinformation („2022 Strengthened Code of Practice on Disinformation“).11 Hierbei handelt es sich um ein Instrument der Selbstregulierung bzw. inzwischen strukturierten Ko-Regulierung,12 das in seiner Ursprungsfassung aus dem Jahr 2018 stammt und in dem sich Online-Plattformen verpflichtet haben, verstärkt gegen desinformierende Inhalte vorzugehen, worunter erwiesen falsche oder irreführende Informationen verstanden werden, die erstellt, präsentiert und verbreitet werden, um wirtschaftliche Gewinne zu erzielen oder um absichtlich der Öffentlichkeit zu schaden.13 Vor diesem Hintergrund haben sich das Europäische Parlament, der Rat und die EU-Kommission verpflichtet, weiterhin alle Grundrechte und insbesondere die Meinungs- und Informationsfreiheit, einschließlich der Freiheit und des Pluralismus der Medien, im Online-Umfeld zu wahren, sowie die Entwicklung und optimale Nutzung digitaler Technik zur Förderung des Engagements der Bevölkerung und der demokratischen Teilhabe zu unterstützen. Des Weiteren haben sie sich verpflichtet, unter uneingeschränkter Achtung der Grundrechte, – einschließlich des Rechts auf freie Meinungsäußerung und des Rechts auf Information –, und ohne Einführung allgemeiner Überwachungspflichten oder Zensur angemessene Maßnahmen zur Bekämpfung aller Formen illegaler Inhalte zu treffen, die im Verhältnis zu dem Schaden stehen, den sie verursachen können, sowie ein digitales Umfeld zu schaffen, in dem die Menschen vor Desinformation und Informationsmanipulation und anderen Formen schädlicher Inhalte, einschließlich Belästigung und geschlechtsspezifischer Gewalt, geschützt sind. Die Selbstverpflichtung erstreckt sich ferner auf die Förderung des effektiven Zugangs zu digitalen Inhalten, die die kulturelle und sprachliche Vielfalt in der EU widerspiegeln, die Befähigung von Personen, frei bestimmte Entscheidungen zu treffen, sowie die Einschränkung der Ausnutzung von Schwachstellen und Vorurteilen, insbesondere durch gezielte Werbung. Weil über die gesetzlichen Grenzen bzw. ein gänzliches Verbot verhaltensbasierter Werbung und invasiven Trackings bereits seit Längerem diskutiert wird, ist beanstandet worden, dass sich das Europäische Parlament, der Rat und die EU-Kommission nicht klar positioniert und diesen viel kritisierten Technologien keine klare Absage erteilt haben.14

Rn298

1.5. Kapitel V – Sicherheit, Schutz und Befähigung

Zur Gewährleistung eines geschützten und sicheren digitalen Umfelds sieht Kapitel V der Erklärung vor, dass jede Person Zugang zu digitalen Technologien, Produkten und Dienstleistungen haben sollte, die sicher und so konzipiert sind, dass sie den Schutz der Privatsphäre gewährleisten, wodurch ein hoher Grad an Vertraulichkeit, Integrität, Verfügbarkeit und Authentizität der verarbeiteten Informationen erreicht werden soll. Entsprechend haben sich das Europäische Parlament, der Rat und die EU-Kommission verpflichtet, weitere Maßnahmen zu ergreifen, um die Rückverfolgbarkeit von Produkten zu fördern und sicherzustellen, dass im digitalen Binnenmarkt nur Produkte angeboten würden, die sicher seien und den EU-Rechtsvorschriften entsprächen. Ferner haben sie sich verpflichtet, die Interessen der Menschen, der Unternehmen und der öffentlichen Einrichtungen vor Cybersicherheitsrisiken und Cyberkriminalität (einschließlich Datenschutzverletzungen und Identitätsdiebstahl oder Manipulation) zu schützen (wozu Anforderungen an die Cybersicherheit vernetzter Produkte, die auf dem Binnenmarkt in Verkehr gebracht werden, gehörten), sowie gegen all jene vorzugehen, die die Sicherheit im Internet und die Integrität des digitalen Umfelds in der EU untergraben wollen oder die mit digitalen Mitteln zu Gewalt aufrufen und Hass schüren, und sie dafür zur Rechenschaft zu ziehen. Zum Schutz der Privatsphäre und der individuellen Kontrolle über Daten benennt die Erklärung ferner das Recht auf Privatsphäre, das Recht auf den Schutz der die jeweilige Person betreffenden personenbezogenen Daten (was ausdrücklich auch die Kontrolle des Einzelnen darüber, wie diese Daten verwendet und an wen sie weitergegeben werden, umfassen soll) sowie das Recht auf die Vertraulichkeit der Kommunikation und der Informationen in den eigenen elektronischen Geräten; außerdem dürfe niemand unrechtmäßiger Online-Überwachung, unrechtmäßiger allgegenwärtiger Nachverfolgung oder unrechtmäßigen Abhörmaßnahmen unterworfen werden. Problematisch ist indes, dass das, was als „unrechtmäßig“ in diesem Sinne zu verstehen ist, nicht näher definiert worden ist.

Rn299

Kapitel V behandelt außerdem den „digitalen Nachlass“. Insoweit sollte jede Person in der Lage sein, ihr digitales Vermächtnis selbst zu bestimmen und zu entscheiden, was nach ihrem Tod mit ihren persönlichen Nutzerkonten und den sie betreffenden Informationen geschehen soll (zwei wichtige und lesenswerte Entscheidungen zum „digitalen Nachlass“ hat der Bundesgerichtshof in den Jahren 2018 und 2020 getroffen15). Entsprechend haben sich das Europäische Parlament, der Rat und die EU-Kommission verpflichtet, sicherzustellen, dass jede Person die tatsächliche Kontrolle über ihre personenbezogenen (gemeint sind Daten, die eine natürliche Person identifizieren oder identifizierbar machen, vgl. Art. 4 Nr. 1 der EU-Datenschutz-Grundverordnung) und nicht personenbezogenen Daten im Einklang mit den EU-Datenschutzvorschriften und dem einschlägigen EU-Recht besitzt, sowie wirksam dafür zu sorgen, dass Personen ihre personenbezogenen und nicht personenbezogenen Daten im Einklang mit den Rechten auf Datenübertragbarkeit problemlos zwischen verschiedenen digitalen Diensten übertragen können. Auch haben sie sich verpflichtet, die Kommunikation vor unbefugtem Zugriff Dritter wirksam zu schützen sowie die unrechtmäßige Identifizierung und die unrechtmäßige Aufbewahrung von Aktivitätsdaten („activity records“) zu verbieten.

Rn300

Eigens aufgegriffen worden ist auch der Schutz und die Befähigung von Kindern und Jugendlichen im digitalen Umfeld. Diese sollten befähigt werden, im digitalen Umfeld sichere und fundierte Entscheidungen zu treffen und ihre Kreativität zum Ausdruck zu bringen, wobei altersgerechte Materialien und Dienste ihre Erfahrungen, ihr Wohlbefinden und ihre Teilhabe verbessern sollten. Weiterhin wird betont, dass dem Recht von Kindern und Jugendlichen auf Schutz vor allen Straftaten, die mittels digitaler Technologien begangen oder durch diese begünstigt werden, besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden sollte. Entsprechend haben sich das Europäische Parlament, der Rat und die EU-Kommission verpflichtet, allen Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit zu bieten, die erforderlichen Fähigkeiten und Kompetenzen, einschließlich von Medienkompetenz und kritischem Denken, zu erwerben, damit sie sich aktiv und sicher im digitalen Umfeld zurechtfinden, einbringen und fundierte Entscheidungen treffen könnten, sowie deren positive Erfahrungen in einem altersgerechten und sicheren digitalen Umfeld zu fördern. Verpflichtet haben sie sich außerdem, Kinder und Jugendlichen vor schädlichen und illegalen Inhalten, Ausbeutung, Manipulation und Missbrauch im Internet zu schützen und zu verhindern, dass der digitale Raum ausgenutzt werde, um Straftaten zu begehen oder zu begünstigen. Entsprechendes gilt für den Schutz alle Kinder und Jugendlichen vor rechtswidriger Nachverfolgung und Profilerstellung sowie rechtswidrigem Targeting, insbesondere zu kommerziellen Zwecken, und die Einbeziehung von Kindern und Jugendlichen in die Entwicklung der sie betreffenden Digitalpolitik. Dem gesteigerten Schutzbedarf Minderjähriger infolge ihrer besonderen Vulnerabilität trägt namentlich auch die EU-Datenschutz-Grundverordnung Rechnung (siehe nur deren Erwägungsgrund 38 und Artikel 8). Abzuwarten bleibt, welche Auswirkungen Kapitel V auf die geplante „Onlineüberwachung“, v.a. in Form einer Chatkontrolle (s.o.) haben wird, ob und inwieweit die Erklärung auf die Thematik der „Vorratsdatenspeicherung“16 Einfluss haben wird und inwieweit (und von wem) sie in der Debatte zu der geforderten digitalen Ausweispflicht für pornographische Dienste herangezogen werden wird.

Rn301

1.6. Kapitel VI – Nachhaltigkeit

In Kapitel VI ist festgeschrieben, dass zur Vermeidung erheblicher Umweltschäden und im Hinblick auf die Förderung einer Kreislaufwirtschaft digitale Produkte und Dienstleistungen so konzipiert, produziert, verwendet, repariert, recycelt und entsorgt werden sollten, dass ihre negativen Auswirkungen auf die Umwelt und die Gesellschaft vermindert werden und eine vorzeitige Produktalterung verhindert wird. Weil überdies jede Person Zugang zu genauen, leicht verständlichen Informationen über die Umweltauswirkungen und den Energieverbrauch digitaler Produkte und Dienstleistungen, ihre Reparierbarkeit und ihre Lebensdauer haben sollte, die es ihr ermöglichen, verantwortungsbewusste Entscheidungen zu treffen, haben sich das Europäische Parlament, der Rat und EU-Kommission dazu verpflichtet, die Entwicklung und Nutzung nachhaltiger digitaler Technik zu unterstützen, die möglichst geringe negative ökologische und soziale Auswirkungen hat, Anreize für nachhaltige Verbraucherentscheidungen und Geschäftsmodelle zu schaffen sowie nachhaltiges und verantwortungsvolles unternehmerisches Verhalten, auch im Hinblick auf die Bekämpfung von Zwangsarbeit, in der gesamten globalen Wertschöpfungskette digitaler Produkte und Dienstleistungen zu fördern. Außerdem haben sie sich – um den grünen Wandel zu beschleunigen – verpflichtet, die Entwicklung, Einführung und aktive Nutzung innovativer digitaler Technologien mit positiven Auswirkungen auf Umwelt und Klima, sowie Nachhaltigkeitsstandards und -siegel für digitale Produkte und Dienstleistungen zu fördern.

Rn302

2. Zur rechtspraktischen Bedeutung der Erklärung

Recht deutlich wird in Erwägungsgrund 7 S. 1 der Erklärung zum Ausdruck gebracht, dass in dieser (nur) gemeinsame politische Absichten und Verpflichtungen dargelegt werden und an die wichtigsten Rechte im Zusammenhang mit dem digitalen Wandel erinnert wird. Ihre Förderung und Anwendung wird als eine gemeinsame politische Verpflichtung und Verantwortung der EU und ihrer Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten und im vollen Einklang mit dem EU-Recht begriffen.17 Nach Verständnis von Europäischem Parlament, Rat und EU-Kommission bildet die Erklärung insoweit nicht nur einen Bezugsrahmen für die Menschen, sondern soll zugleich als eine politische Richtschnur bzw. als Maßstab für politische Entscheidungsträgerinnen und -träger, Unternehmen und alle anderen relevanten Akteure bei der Entwicklung und Einführung neuer Technologien fungieren, wenn sie über ihre Vision des digitalen Wandels nachdenken.18 Weiterhin soll die Erklärung als Orientierung für das diplomatische Handeln der EU dienen, namentlich Partnerschaften und Gespräche mit internationalen Partnern prägen19 sowie – so die Kommission – „den Ansatz bestimmen, den die EU weltweit verfolgen wird“20. Im Verhältnis zum mitgliedstaatlichen Recht und zum Unionsrecht hat die Erklärung somit allein deklaratorischen Charakter und lässt daher den Inhalt oder die Anwendung von Rechtsvorschriften unberührt21 (was insbesondere für „Offline-Politiken“ wie den Offline-Zugang zu wichtigen öffentlichen Diensten gilt22). Denn zwar sei die demokratische Funktionsweise der digitalen Gesellschaft und Wirtschaft unter uneingeschränkter Achtung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit, wirksamer Rechtsbehelfe und Vollstreckung weiter zu stärken.23 Dennoch berühre die Erklärung nicht die rechtmäßigen Beschränkungen der Ausübung von Rechten, um sie mit der Ausübung anderer Rechte in Einklang zu bringen, oder notwendige und verhältnismäßige Beschränkungen im Interesse der Allgemeinheit.24 Allerdings sollten die Mitgliedstaaten und die EU-Kommission die in der Erklärung verankerten digitalen Grundsätze und Rechte bei ihrer Zusammenarbeit zur Verwirklichung der in dem Beschluss über das Politikprogramm für 2030 „Weg in die digitale Dekade“ festgelegten allgemeinen Ziele berücksichtigen.25 Insoweit erklärte Kommissionspräsidentin von der Leyen, dass die Erklärung die EU-Kommission „bei der Arbeit an allen neuen Initiativen leiten“ würde.26

Rn303

In Ansehung des Vorgenannten bleibt abzuwarten, ob die Erklärung – die die EU-Kommission ausdrücklich als (neue) „Digitale DNA“ der Europäischen Union begreift27 – perspektivisch überhaupt eine eigenständige Rolle in der Praxis spielen wird, und falls ja, inwieweit und besonders mit welchen Auswirkungen für v.a. aktuelle und künftige (Gesetzes-)Vorhaben sich politische Entscheidungsträger tatsächlich an ihr orientieren und die Erklärung eventuell sogar legitimierend zu ihren Zwecken heranziehen werden (können). Im Auge zu behalten ist überdies, inwieweit Akteure der digitalen Privatwirtschaft die Erklärung in einschlägigen Debatten zu ihren Gunsten fruchtbar zu machen vermögen, und inwieweit die im Einzelnen verankerten digitalen Rechte und Grundsätze – angesichts ihrer teils sehr unspezifischen und damit unterschiedlich auslegbaren Formulierungen – drohen, letztendlich sogar (in Teilen) konterkariert zu werden.

Rn304

Näher und v.a. kritisch mit der (rechtspraktischen Bedeutung der) „Europäischen Erklärung zu den digitalen Rechten und Grundsätzen für die digitale Dekade“ beschäftigt sich Teil III des Beitrags, in dem außerdem ein Fazit gezogen und ein Ausblick gegeben wird.

Rn305

1    Für den Vorschlag der EU-Kommission vom Januar 2022 s. COM(2022) 28 final. Ein Fassungsvergleich findet sich bei Schat, Schöne Worte, kaum Verpflichtung, 25.11.2022, netzpolitik.org/2022/erklaerung-fuer-digitale-grundrechte-schoene-worte-kaum-verpflichtung/ (zuletzt aufgerufen am 2.3.2023).

2    S. dazu etwa die Erklärung des Europäischen Rates v. 25.05.2021, SN 18/21. Am 12.12.2022 hat der Rat Vorschriften zur Mindestbesteuerung der größten Unternehmen verabschiedet.

3    Krempl, "Digitale DNA": EU-Erklärung zu digitalen Rechten mit Schönheitsfehlern, 15.12.2022, .heise.de/news/Digitale-DNA-EU-Erklaerung-zu-digitalen-Rechten-mit-Schoenheitsfehlern-7396710.html (zuletzt aufgerufen am 2.3.2023).

4    Gesetz über Künstliche Intelligenz, COM(2021) 206 final (Entwurf).

5    S. dazu COM(2021) 281 final.

6    Gesetz über Künstliche Intelligenz, COM(2021) 206 final (Entwurf).

7    Regulation (EU) No 1025/2012 on European standardisation.

8    Zu denken ist beispielsweise an Open-Souce-Software, Schat, Schöne Worte, kaum Verpflichtung, 25.11.2022, netzpolitik.org/2022/erklaerung-fuer-digitale-grundrechte-schoene-worte-kaum-verpflichtung/ (zuletzt aufgerufen am 2.3.2023).

9    Zur „Menschenzentriertheit“ siehe die Ausführungen in Teil I.

10 Schat, Schöne Worte, kaum Verpflichtung, 25.11.2022, netzpolitik.org/2022/erklaerung-fuer-digitale-grundrechte-schoene-worte-kaum-verpflichtung/ (zuletzt aufgerufen am 2.3.2023).

11 S. ec.europa.eu/newsroom/dae/redirection/document/87585 (zuletzt aufgerufen am 2.3.2023).

12 Die EU-Kommission hatte im Mai 2021 Leitlinien mit konkreten Vorschlägen zur Stärkung des Verhaltenskodex veröffentlicht, COM(2021) 262 final.

13 Zum Ganzen Setz, MMR-Aktuell 2022, 449701. Maßnahmen gegen desinformierende Inhalte sind überdies im Hinblick auf russische Kriegspropaganda ergriffen worden, s. dazu Art. 2f der VO (EU) 2022/350.

14 Schat, Schöne Worte, kaum Verpflichtung, 25.11.2022, netzpolitik.org/2022/erklaerung-fuer-digitale-grundrechte-schoene-worte-kaum-verpflichtung/ (zuletzt aufgerufen am 2.3.2023).

15 BGH, Urteil vom 12.7.2018 – III ZR 183/17, NJW 2018, 3178; BGH, Beschluss vom 27.8.2020 – III ZB 30/20, NJW 2021, 160.

16 S. dazu jüngst EuGH, Urteil vom 20.9.2022 – C-793/19, C-794/19 u.a., NJW 2022, 3135.

17 EG 12 S. 1.

18 EG 7 S. 2 und 8 S. 1; COM(2022) 27 final, 8.

19 COM(2022) 27 final, 8 sowie EG 11.

20 EU-Kommission, Pressemitteilung vom 15.12.2022, ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_22_7683 02.03.2023.

21 EG 10 S. 3.

22 EG 3 S. 5.

23 Vgl. EG 9 S. 1.

24 EG 9 S. 2.

25 EG 12 S. 3.

26 EU-Kommission, Pressemitteilung vom 15.12.2022, ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_22_7683 (zuletzt aufgerufen am 2.3.2023).

27 EU-Kommission, Pressemitteilung v. 15.12.2022, ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_22_7683 (zuletzt aufgerufen am 2.3.2023).