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Zitiervorschlag: Lorenz, LRZ 2023, Rn. 306, [●], www.lrz.legal/2023Rn306.

Permanente Kurz-URL: LRZ.legal/2023Rn306

Der dritte Teil der dreiteiligen Beitragsreihe setzt sich kritisch mit der Frage der rechtspraktischen Bedeutung der Erklärung auseinander und lädt zur vertieften Diskussion ein

1. Einleitung / Vorbemerkung

Während die gemeinsame „Europäische Erklärung zu den digitalen Rechten und Grundsätzen für die digitale Dekade“ von Europäischem Parlament, Rat und Europäischer Kommission in Teil I des Beitrags unter Darlegung ihrer politischen und rechtlichen Hintergründe eingeordnet und ihr Entstehungsprozess einschließlich von Kritik nachvollzogen worden ist, wurden in Teil II die in ihr verankerten digitalen Rechte, Grundsätze und Selbstverpflichtungen im Einzelnen wiedergegeben und zeigt der bloß deklaratorische Charakter der Erklärung, die nach Ansicht von Europäischem Parlament, Rat und EU-Kommission allem voran als politische Richtschnur dienen soll, aufgezeigt.

Rn306

Hieran anknüpfend setzt sich Teil III des Beitrags kritisch mit der Frage der rechtspraktischen Bedeutung der Erklärung auseinander und lädt zur vertieften Diskussion ein.

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2. (Neue) „Digitale DNA“ oder nur schöne Worte?

Über die in Teil I und Teil II des Beitrags angeführte Kritik hinaus, ist die gemeinsame „Europäische Erklärung zu den digitalen Rechten und Grundsätzen für die digitale Dekade“ von Europäischem Parlament, Rat und EU-Kommission zu Recht v.a. im Hinblick auf ihren Mehrwert in Frage gestellt worden.

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Von rechtspraktischer Bedeutung in diesem Zusammenhang ist zunächst und insbesondere die Frage nach der rechtlichen Verbindlichkeit der interinstitutionellen Erklärung ­– die in Ansehung ihres rein deklaratorischen Charakters1 jedoch klar verneint werden muss. Soweit die Erklärung nach Kommissionsverständnis deshalb als gerade (neue) „digitale DNA“ der Europäischen Union deren Engagement für einen sicheren und nachhaltigen digitalen Wandel manifestieren soll, bei dem im Einklang mit den europäischen Grundwerten und Grundrechten die Menschen im Mittelpunkt stehen,2 ist dies mindestens diskutabel. Zwar folgt die interinstitutionelle Erklärung, – die einerseits einen Bezugsrahmen für die Menschen bieten und andererseits als Maßstab für politische Entscheidungsträger, Unternehmen und alle anderen relevanten Akteure bei der Entwicklung und Einführung neuer Technologien fungieren soll, wenn sie über ihre Vision des digitalen Wandels nachdenken3 –, dem sich (inter-)national abzeichnenden Trend, digitale Rechte und Grundsätze zum Gegenstand zwar nicht allgemeingültiger und rechtsverbindlicher, aber immerhin der Orientierung dienender Erklärungen zu machen (Stichwort: „Internet Bills of Rights“).4 Der Forderung nach der Schaffung eines (neuen) europäischen Grundrechtskatalogs,5 der gezielt dem digitalen Zeitalter hinreichend Rechnung trägt, wie dies schon länger auf Unionsebene mit teils konkreten Vorschlägen verlangt wird, ist aber gerade nicht entsprochen worden (hierfür hätten – zusätzlich zur inhaltlichen Ausgestaltung und erforderlichenfalls mit Innovationen in der digitalen Grundrechtsdogmatik –, außerdem v.a. die exterritoriale Grundrechtswirkung geklärt und die Frage der mittelbaren Drittwirkung beantwortet werden müssen).6

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Positiv zu beurteilen ist jedoch die Signalwirkung, die die Erklärung gegenüber den Menschen, politischen Entscheidungsträgern sowie privatwirtschaftlichen Akteuren international (hoffnungshalber) entfalten dürfte. Damit setzt die EU ihr Vorhaben, die Erklärung und insbesondere die in dieser benannten universellen Menschenrechte gegenüber internationalen Partnern prominent zu bewerben, in die Tat um. Dies gilt insbesondere mit Blick darauf, dass in der Erklärung der wichtige und richtige Ansatz der EU, die Menschen in den Mittelpunkt des digitalen Wandels zu stellen, abermals hervorgehoben und öffentlichkeitswirksam festgeschrieben worden ist; ein Ziel, das – wie gesehen – für die europäische Strategie beim digitalen Wandel insgesamt prägend ist. Auch sind in der Erklärung zumindest zahlreiche (– wenn auch nicht alle denkbaren7 –) der für den digitalen Wandel maßgeblichen (digitalen) Rechte und Grundsätze zum ersten Mal gebündelt und strukturiert ausformuliert worden.

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Gleichwohl ist aber fraglich, inwieweit die in der Erklärung verankerten Rechte, Grundsätze und v.a. Selbstverpflichtungen v.a. langfristig einen verlässlichen Bezugsrahmen für die Bürgerinnen und Bürger darzustellen vermögen. Denn präzise Konsequenzen für ein Nichtergreifen entsprechender Maßnahmen zur praktischen Umsetzung der Erklärung durch die politischen Entscheidungsträger der EU und der Mitgliedstaaten sind gerade nicht vorgesehen.8 Ebenso wenig ist spezifiziert, wie Unternehmen und alle anderen relevanten Akteure bei der Entwicklung und Einführung neuer Technologien konkret zur Umsetzung der in der Erklärung verankerten Inhalte bewegt werden sollen. Dass ihr perspektivisch in der Praxis eine eigenständige Rolle dergestalt zukommt, die dem gerecht wird, was eine so bezeichnete „Digitale DNA“ verspricht, muss daher stark bezweifelt werden. Auf einen additionalen Wert der Erklärung, insbesondere einen erkennbaren rechtserheblichen Effekt bleibt auch deshalb bis auf Weiteres nur zu hoffen.9 Insbesondere ist nicht absehbar, welche konkreten Auswirkungen die Erklärung spezifisch für den Erlass und die Auslegung von Unionsrecht haben (können) wird, wobei im Hinblick auf Zweiteres bereits fraglich ist, welchen Mehrwert ein Gericht, v.a. der EuGH, aus gerade der Heranziehung einer rein deklaratorischen Erklärung – wie dies hier der Fall ist – überhaupt schöpfen soll. Denn diese bietet – anders als dies Kommissionspräsidentin von der Leyen mindestens missverständlich formuliert hatgerade keine „Garantien“ im Sinne von gerichtlich einklagbaren zusätzlichen Positionen.

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3. Fazit und Ausblick

Nach alldem bleibt bis auf Weiteres abzuwarten, ob und inwieweit – und von wem – die Erklärung im Zusammenhang mit v.a. aktuellen und künftigen (Gesetzes-)Vorhaben (legitimierend) herangezogen werden wird. Mit Spannung zu verfolgen sein wird außerdem, inwieweit Akteure der digitalen Privatwirtschaft die Erklärung in einschlägigen Debatten zu ihren Gunsten anführen werden, möglicherweise sogar mit der Folge, dass diese wegen v.a. ihrer zum Teil unspezifischen oder gar als widersprüchlich empfundenen Formulierungen (in Teilen) droht, konterkariert zu werden, weil nicht ausgeschlossen ist, dass ihre Inhalte unterschiedlich ausgelegt werden. Als (neue) „digitale Magna Carta“ wird die Erklärung aber jedenfalls zu Recht nicht begriffen.10

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Als Schritt zwar nur – aber eben auch immerhin – politischer Symbolkraft, der außerdem geeignet ist, Öffentlichkeit herzustellen und schwelenden Debatten „neuen Schwung zu geben“, trägt die Erklärung somit letztlich zwar nicht der Forderung nach einem rechtsverbindlichen Rahmen Rechnung. Wohl aber hat sie – bei entsprechender Berücksichtigung von Seiten der vorgenannten Entscheidungsträger und Akteure – das Potential, als ein der (verlässlichen) Orientierung bzw. als politische Richtschnur dienendes „Instrument“ den Ansatz der EU für den digitalen Wandel und die in diesem Zusammenhang stehenden Maßnahmen und Rechtsakte mit zumindest politischem Mehrwert zu ergänzen.

Rn313

1    S. EG 10 S. 3 sowie die Ausführungen in Teil II des Beitrags.

2    EU-Kommission, Pressemitteilung vom 15.12.2022, ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_22_7683 (zuletzt aufgerufen am 2.3.2023).

3    EG 7 S. 2 und 8 S. 1; COM(2022) 27 final, 8.

4    S. dazu etwa Celeste, Digital Constitutionalism. The Role of Internet Bills of Rights, 2022.

5    S. dazu die Hinweise in Teil I auf die Initiative zu einer „Digitalcharta“ und die der Stiftung Jeder Mensch e.V.

6    Vgl. Leuscher, Eine “Charta der Grundrechte für die digitale Zeit”, und warum wir sie brauchen, 11.12.2015, verfassungsblog.de/eine-charta-der-grundrechte-fuer-die-digitale-zeit-und-warum-wir-sie-brauchen/ (zuletzt aufgerufen am 2.3.2023).

7    Zur Forderung der Bundesrechtsanwaltskammer nach einer hinreichenden Berücksichtigung des Mandatsgeheimnisses s. Teil I des Beitrags.

8    Zur Überwachung und Überprüfung s. die Ausführungen in Teil II.

9    Wenig optimistisch etwa Quinn, Much Ado About Nothing, 22.12.2022, verfassungsblog.de/much-ado-about-nothing-2/ (zuletzt aufgerufen am 2.3.2023).

10 Nüßing, MMR 2022, 341 (342).