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Zitiervorschlag: Heyers, LRZ 2022, Rn. 801, [●], www.lrz.legal/2022Rn801.

Permanente Kurz-URL: LRZ.legal/2022Rn801

Das BKartA hat zum dritten Mal in kurzer Folge die Marktverhältnisse des Stromerstabsatzmarkts untersucht und eine marktbeherrschende Stellung von RWE festgestellt. Vor dem Hintergrund der scharfen Missbrauchskontrolle ist das ein erhebliches Warnsignal. Der Beitrag leuchtet die Hintergründe aus und wagt einen Ausblick.

1. Einführung

Mit dem Strommarktgesetz wurde dem Bundeskartellamt (folgend kurz „BKartA“) im Jahr 2016 die Aufgabe übertragen, regelmäßig Berichte zu den Wettbewerbsverhältnissen im Bereich der Erzeugung elektrischer Energie (Marktmachtberichte) zu erstellen. Nun hat das BKartA vor kurzem seinen dritten Marktmachtbericht zur Stromerzeugung – Bericht über die Wettbewerbsverhältnisse bei der Erzeugung elektrischer Energie 2021 – vorgelegt.1 Er analysiert – wie bereits in den vergangenen Jahren – die Marktmachtverhältnisse bei der Erzeugung und dem erstmaligen Absatz von Strom und ist im Zusammenhang mit dem sog. Monitoringbericht zu sehen, mit dem BNetzA und das BKartA wesentliche Entwicklungen auf den deutschen Elektrizitäts- und Gasmärkte gemeinsam darstellen.2 Eine Analyse des Berichts des BKartA und seiner Hintergründe ist Gegenstand des vorliegenden Beitrags.

Rn801

Das BKartA hätte den Bericht aufgrund des Zweijahresrahmens (vgl. § 53 Abs. 3 Satz 2 GWB: „mindestens alle zwei Jahre“) noch nicht vorlegen müssen, hat allerdings auf Änderungen auf dem Strommarkt (Energiewende: Ausstieg aus der Kernkraft, der Braunkohle und der Steinkohle; Ausbau sog. erneuerbarer Energien) adäquat kurzfristig reagiert. Die Publikation trifft zwar mit den aktuellen Entwicklungen im Osten zusammen. Doch betreibt das BKartA keine Geopolitik, sondern analysiert Wettbewerbskräfte. Anderes würde im Außenwirtschaftsrecht gelten, das jedoch nicht im vorliegenden Kontext zu diskutieren ist.

Rn802

Die Wettbewerbsverhältnisse der konventionellen Stromerzeugung haben sich in den vergangenen 15 Jahren in nicht unerheblicher Weise geändert. Nachdem die Europäische Kommission im Jahre 2008 eine gemeinsame Marktbeherrschung durch E.ON, RWE und Vattenfall auf dem deutschen Großhandelsmarkt festgestellt hatte3und zahlreiche Beschwerden über die Strompreisentwicklung geäußert wurden, hatte das BKartA eine Sektoruntersuchung eingeleitet.4 Es beabsichtigte, die Funktionsweise der betroffenen Märkte zu analysieren und die zuvor von der Europäischen Kommission angestellten Überlegungen in den geführten Verfahren weiterzuentwickeln. Das Amt fand heraus, dass lediglich vier Unternehmen über 80% des Erstabsatzmarktes für Strom besetzten. Der größte Erzeuger war RWE (31%), zweitgrößter E.ON (19%). EnBW und Vattenfall folgten mit größerem Abstand bzw. Marktanteilen von 14% bzw. 16%.

Rn803

Zwar war die Marktstruktur schon damals grundsätzlich eng und konzentriert. Einen Hinweis auf missbräuchliche Praktiken fand das BKartA jedoch nicht. Dennoch sah es neben der Notwendigkeit marktstruktureller Maßnahmen „erheblichen Verbesserungsbedarf im Hinblick auf eine Effektivierung der kartellrechtlichen Missbrauchsaufsicht“.5 Deshalb wurde im Jahre 2012 die sog. Markttransparenzstelle geschaffen. Danach sollen BKartA und BNetzA den Großhandel mit Elektrizität laufend überwachen, um vor allem einen Missbrauch von Marktmacht schnell aufdecken zu können. Im Jahre 2016 wurde dann die bereits erwähnte Kompetenz des BKartA, Marktmachberichte zu erstellen, geschaffen.

Rn804

Seitdem haben sich die Marktverhältnisse wiederum gewandelt: Vattenfall veräußerte seine Braunkohlesparte (nunmehr: LEAG). E.ON spaltete seine konventionelle Erzeugung ab (nunmehr: Uniper). Das Unternehmen gehört nicht mehr zu den größten Stromerzeugern. Die abgestoßenen konventionellen Kapazitäten bei Uniper entsprechen nur noch rd. 6% der deutschen Erzeugungskapazitäten. Vattenfall halbierte seinen Marktanteil; die Braunkohlekapazitäten LEAGs machen einen Anteil von 9% an den Erzeugungskapazitäten aus. Größter Stromerzeuger ist weiterhin RWE. Der Markt entspannte sich also etwas; die größten vier Stromerzeuger hielten im Jahr 2019 noch einen Marktanteil von etwa 50%.

Rn805

Der Strommarkt wird von Besonderheiten gekennzeichnet, auf die sogleich – unter II. und III. – näher einzugehen ist. Dazu zählt, dass Strom – zumindest derzeit – nur sehr eingeschränkt speicherbar ist und die Stromnachfrage kurzfristig sehr unelastisch reagiert. Deshalb kann es auf dem Strommarkt zu Situationen kommen, in denen ein Unternehmen unverzichtbar für die Deckung der Nachfrage ist, was als pivotal bezeichnet wird. Diese Pivotalität kann ein Stromversorger nutzen, um den Strompreis durch Kapazitätszurückhaltung missbräuchlich zu erhöhen. Deshalb rekurriert das BKartA bei der Beurteilung der Wettbewerbsverhältnisse nicht nur auf die dargestellten Marktanteile auf dem Stromerzeugungsmarkt – wie dies im Kartellrecht sonst üblich wäre –, sondern insbesondere auf eine Pivotalanalyse, worauf sogleich unter III. näher eingegangen wird.

Rn806

Wettbewerb kann jedoch nur auf einem bestimmten Markt beschränkt, Marktmacht nur darauf missbraucht werden. Deshalb ist zunächst auf die Abgrenzung des relevanten Marktes einzugehen (hierzu nunmehr II.).

Rn807

2. Marktabgrenzung und -verhältnisse

Kartellrechtlich wird eine Marktabgrenzung üblicherweise in sachlicher, räumlicher und zeitlicher Hinsicht durchgeführt.

Rn808

In sachlicher Hinsicht beschreibt das BKartA einen Markt des erstmaligen Absatzes von Strom mit physischer Erfüllung (Erstabsatzmarkt) als relevanten Markt. Im Rahmen der Marktmachtberichte geht es in diesem Kontext insbesondere auf die Abgrenzung des Erstabsatzmarktes vom Eigenverbrauch und vom Bahnstrom, von der Regelenergie, von Reservekapazitäten, vom sog. Redispatch und von der nach EEG geförderten Stromerzeugung ein (vgl. hierzu näher 2.). In Bezug auf die räumliche Dimension grenzt das BKartA die deutsch-luxemburgische Gebotszone als relevanten Markt ab (vgl. hierzu sogleich 1.). Zu diesem Ergebnis gelangt das Amt auf der Basis von Preisvergleichen zwischen angrenzenden Gebotszonen (sog. Preisgleichheitsanalysen). In Bezug auf die zeitliche Dimension legt das BKartA einen Zeitraum von einem Jahr zugrunde (hierzu näher III.). Im Folgenden werden die strittigsten Punkte zu alledem einer kritischen Analyse unterzogen.

Rn809

2.1. Räumlich

Das BKartA definiert einen Markt für den erstmaligen Absatz erzeugten Stroms in Deutschland und Luxemburg (früher war dazu auch Österreich zu rechnen, was sich aber infolge von Kapazitätsproblemen zwischen Nord – und Süddeutschland änderte).

Rn810

Das wird kritisiert. Es heißt, man müsse das gesamte Gebiet, in dem die sog. lastflussbasierte Marktkopplung angewendet wird, zu einem relevanten Markt zusammenfassen: Belgien, Frankreich, Niederlande, Deutschland und Luxemburg seien umfasst. Die lastflussbasierte Marktkopplung kann als ein Mechanismus für die Zuteilung von Grenzkapazitäten beschrieben werden. Dabei erfolgt die Kapazitätszuteilung zeitlich parallel zu den Handelsgeschäften. Unter Verwendung eines Netzmodells und der Handelsergebnisse wird auf diese Weise eine wohlfahrtsoptimierte Kapazitätsverteilung erreicht. Da diese Optimierung nicht den Stromfluss über eine einzelne Grenze, sondern sämtliche bedeutsamen Stromflüsse berücksichtige, gehe von allen maßgeblichen Gebotszonen Wettbewerbsdruck aus. Aus diesem Grund seien auch alle an der lastflussbasierten Marktkopplung beteiligten Gebotszonen dem relevanten Markt zuzurechnen.6

Rn811

Diese Kritik ist nicht überzeugend. Namentlich die Monopolkommission7 hat dargelegt, dass Grenzkapazitäten in ausreichendem Ausmaß zur Verfügung stehen müssen, damit von einer Gebotszone Wettbewerbsdruck ausgehen kann. „Ausreichend“ bedeute, dass die Geschäfte, zu denen es aufgrund einer Preisungleichheit zwischen Gebotszonen kommen würde, netzseitig zumindest in weiten Teilen abgebildet werden können. Dies sei an den Außengrenzen der Gebotszone Deutschland/Luxemburg jedoch offenbar nicht der Fall.

Rn812

Das BKartA vergleicht die Preise zwischen der Gebotszone Deutschland/Luxemburg und allen angrenzenden Gebotszonen. Diese Preisdifferenzanalysen zeigen, dass es zu allen Außengrenzen in weniger als 60% Prozent der Zeit zur Preisgleichheit kommt. Die Preisdifferenzen sind zum Teil erheblich. Beispielsweise betrug die absolute Preisdifferenz zur österreichischen Gebotszone bei einem durchschnittlichen Großhandelspreis von 30-50 EUR/MWh im Monatsdurchschnitt bis zu 12 EUR/MWh.8 Die Substitution von Erzeugung innerhalb der Gebotszone Deutschland/Luxemburg durch Importe aus angrenzenden Gebotszonen wird durch knappe Netzkapazitäten an den Gebotszonengrenzen somit derart eingeschränkt, dass angrenzende Gebotszonen nicht dem relevanten Markt zuzuordnen sind.9

Rn813

2.2. Sachlich

Strom wird vielfach gehandelt. Es bestehen auch sog. Terminmärkte, d.h. es wird Strom, der erst in einigen Jahren erzeugt wird, erworben, und in weiteren Jahren weiterveräußert. Würde man auf einen „Strommarkt“ als solchen abstellen, würde dies das tatsächliche Machtgefüge nur verzerrt wiedergeben.

Rn814

Der sachlich hier relevante Markt ist an sich als eine Art geschrumpfter Residualmarkt zu begreifen, da insbesondere die erneuerbaren Energien dazu nicht gehören sollen. Strom aus sog. erneuerbaren Energien wird derzeit in einem Umfang von ca. 40% gehandelt, und der Markt wächst stetig. Allerdings war der Einspeisungsumfang im Zeitraum von Januar bis März 2021 verhältnismäßig gering, so dass das Wachstum dieses Markts nur mäßig ausfiel und dies zu einer gewichtigeren Bedeutung der konventionellen Energien (wohl mit der Konsequenz der Annahme einer Marktbeherrschung von RWE; dazu sogleich) führte.

Rn815

Strom aus erneuerbaren Energien wird in Deutschland mithilfe des EEG gefördert. Die Höhe der Förderung wird über Ausschreibungen ermittelt, in denen die Gebote, die den niedrigsten sog. anzulegenden Wert bieten, einen Zuschlag erhalten. Bezuschlagte Anlagen veräußern – wie konventionelle Kraftwerke – den entsprechenden Strom am Markt (sog. Direktvermarktung). Allerdings liegt der Marktpreis i.d.R. unterhalb des anzulegenden Werts. Deshalb erhalten bezuschlagte Anlagen zusätzlich zu den Verkaufserlösen eine sog. Marktprämie, die – vereinfacht – aus der Differenz zwischen anzulegendem Wert und dem energieträgerspezifischen Monatsmarktwert ermittelt wird.

Rn816

Das BKartA nimmt auf der Grundlage dessen an, dass die dargebotsabhängigen Anlagen zur Erzeugung erneuerbarer Energien, wie Wind- oder Solaranlagen, unabhängig vom Marktpreis Strom erzeugen, wann immer dies möglich ist. Denn die Marktprämie gleicht die Differenz aus Verkaufserlös und anzulegendem Wert i.d.R. aus, so dass die Anlagenbetreiber unabhängig vom Marktpreis den anzulegenden Wert erhalten. Insofern sind die Gesamterlöse aus der Stromerzeugung bei diesen Anlagen weitestgehend unabhängig vom Marktpreis. Das Amt geht für diese Anlagen daher von grundlegend anderen Markt- und Wettbewerbsbedingungen aus als für konventionelle Erzeuger, was eine Ausgrenzung aus dem relevanten Markt rechtfertigen soll.

Rn817

Dem widersprechen verschiedene Marktteilnehmer:10 Gegenstand der Marktabgrenzung sei eine Ermittlung der Wettbewerbskräfte. Zu würdigen sei also, ob ein Unternehmen durch das Marktverhalten eines anderen diszipliniert wird. Konventionelle Stromerzeuger übten zwar keinen Druck auf Erzeuger erneuerbarer Energien aus, denn sie würden insbesondere anders vergütet. Freilich übten Erzeuger der sog. erneuerbaren Energien Druck auf die konventionell Erzeugenden aus: Je mehr jene einspeisen, desto schlechter lässt sich konventionell erzeugter Strom verkaufen. Die Marktverhältnisse seien demnach asymmetrisch. Strom aus sog. erneuerbaren Energien, der wie der Strom aus konventionellen Kraftwerken über die Direktvermarktung am Markt gehandelt wird, müsse jedenfalls in den relevanten Markt einbezogen werden, da er einen erheblichen Einfluss auf den Marktpreis habe. 

Rn818

Allerdings bleibt dabei außer Betracht, dass die Einspeisung aus den dargebotsabhängigen erneuerbaren Energien derzeit in aller Regel keiner Steuerung durch den Betreiber unterliegt. Aufgrund der weitestgehend konstanten Erlöse besteht für die Betreiber gegenwärtig auch kein Anreiz für eine Steuerung, die z.B. über eine Zwischenspeicherung des Stroms erreicht werden könnte. Da das Angebot dieses erneuerbaren Stroms am Markt infolge der fehlenden Steuerung nicht auf Preisveränderungen reagiert, kann es angebotsseitig nicht als Substitut für konventionellen Strom betrachtet werden. Daher ist Strom zumindest aus geförderten, dargebotsabhängigen erneuerbaren Energien jedenfalls derzeit tatsächlich nicht in den relevanten Markt einzubeziehen.

Rn819

Soweit angeführt wird, dass die Teilnehmer an wettbewerblichen Ausschreibungen für erneuerbare Energien die langfristige Entwicklung der Strompreise einbezögen, also auf den Strompreis gewissermaßen reagierten, was zu einer Marktinkludierung führen müsse,11 greift auch dieses Argument nicht durch. Betreiber von Anlagen zur Erzeugung erneuerbarer Energien bieten in den Ausschreibungen auf den anzulegenden Wert. Dieser muss für den Anlagenbetreiber kostendeckend sein. Die Kosten liegen wiederum – jedenfalls derzeit – oberhalb der Marktpreise. Da die Differenz zwischen Marktpreis und anzulegendem Wert durch die Marktprämie weitestgehend ausgeglichen wird, berücksichtigen Teilnehmer an den Ausschreibungen bei ihren Geboten lediglich ihre Kosten, nicht aber die erzielbaren Erlöse am Markt.

Rn820

Insgesamt lässt sich festhalten, dass es praktisch zwar zutreffen mag, dass die Marktmacht der konventionellen Erzeuger zunimmt. Doch könnte dies immer weniger relevant werden: Die konventionellen Erzeuger sind Marktbeherrscher auf einem schrumpfenden Markt, der bis zur Bedeutungslosigkeit herabsinken wird, je mehr erneuerbare Energien an Bedeutung gewinnen. Die Marktbeherrschung nimmt also zwar zu, das Problem möglicherweise langfristig aber ab.

Rn821

Die Entwicklung des Stromerstabsatzmarktes im Allgemeinen war im Berichtsjahr durch eine Verknappung des Marktes geprägt, wenn man es ins Verhältnis zu den Vorjahren setzt. Dem Einbruch der Stromnachfrage im vormaligen Berichtsjahr – vor allem im Frühjahr 2020 ausgelöst durch die Folgen der ersten COVID 19-Welle, die zu einer starken Einschränkung des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens führten – folgte eine Konsolidierungsphase. Die Stromnachfrage stieg auf das Niveau der Vorjahre an. Der Bedarf an Kraftwerksleistung aus dem Stromerstabsatzmarkt erhöhte sich, was auch auf verschiedene Faktoren zurückgeführt werden kann: Einspeisung von eher geringen Mengen erneuerbarer Energien mit der nachfrageseitigen Folge eines verstärkten Bedarfs an Kraftwerksleistung aus dem Stromerstabsatzmarkt; angebotsseitig: Ausscheiden von Erzeugungskapazitäten in einer Größenordnung von rd. 5 GW infolge der Umsetzung des Kohleverstromungsbeendigungsgesetzes zum Jahresende 2020.

Rn822

Dies hat dazu beigetragen, dass RWE vom BKartA nun zum ersten Mal als Marktbeherrscherin qualifiziert wurde. Infolge der allgemeinen Marktverknappung, die künftig aufgrund des geplanten weiteren Rückbaus von Erzeugungskapazitäten noch zunehmen wird, und der damit unweigerlich verbundenen Bedeutung residualer Kraftwerkskapazitäten deutscher Stromerzeuger für die Deckung der Nachfrage dürfte sich daran zumindest kurzfristig kaum etwas ändern, wobei im Blick zu behalten bleibt, dass RWE plant, Kraftwerke mit einer Gesamtleistung > 7000 Megawatt stillzulegen. Bei dieser Bewertung bleibt eine mögliche Eskalation der Wirtschaftskrise aufgrund der derzeitigen geopolitischen Lage sogar noch unberücksichtigt.

Rn823

Selbstverständlich kann man Überlegungen darüber anstellen, ob und inwieweit neben diesen messbaren bzw. objektiven Faktoren auch der im Jahr 2018 ins Werk gesetzte Deal zwischen E.ON und RWE als eine wesentliche Ursache für die marktbeherrschende Stellung des RWE-Konzerns anzusehen war. Denn infolge einer Art Tausch von Unternehmensanteilen wurden bei RWE die Erzeugungskapazitäten konzentriert, während E.ON im Gegenzug die Wertschöpfungsstufen von Netz und Endkundengeschäft zugewiesen wurden.12 Mehrere kommunale Energieversorger und weitere Unternehmen der Privatwirtschaft hatten im Mai 2020 Klage vor dem EuG gegen die Freigabe des Vorhabens durch die EU-Kommission eingelegt;13 das Verfahren zieht sich derzeit jedoch noch hin. 

Rn824

3. Ermittlung der Marktmacht

Eine Besonderheit gegenüber den üblichen kartellrechtlichen Methoden bildet die Methode der Ermittlung der Marktmacht auf dem relevanten Markt. Wird sie normalerweise dergestalt vorgenommen, dass das Marktvolumen ermittelt und auf die verschiedenen Player in Gestalt von Marktanteilen verteilt wird, so gilt es hier – wie einleitend dargelegt – zu beachten, dass Energie nicht speicherbar ist; außerdem ist die Nachfrage kurzfristig unelastisch.

Rn825

Deshalb führt das BKartA seit der Sektoruntersuchung im Jahr 2011 zur Beurteilung der Wettbewerbsverhältnisse auf dem Strommarkt sog. Pivotalanalysen mithilfe des RSI (Residual Supply Index) durch. Bei dem RSI handelt es sich – wie bei den Marktanteilen – um ein Konzentrationsmaß, das allerdings auf die Besonderheiten des Strommarktes ausgerichtet ist. Der RSI wird durch die folgende Formel berechnet: RSIit= Marktkapazitätt Kapazitätt Marktnachfraget .

Rn826

Im Zähler stehen für jeden Zeitpunkt 𝑡 die verbleibenden Marktkapazitäten, wenn diejenigen des Unternehmens 𝑖nicht berücksichtigt werden. Im Nenner steht die Marktnachfrage zum Zeitpunkt 𝑡. Der RSI bestimmt damit, ob die Marktnachfrage zu einem Zeitpunkt 𝑡 auch ohne die Kapazitäten des Kraftwerkbetreibers 𝑖 hätten gedeckt werden können. Reicht die Kapazität am Markt auch ohne das Unternehmen 𝑖 aus, um die Marktnachfrage zu decken, nimmt der RSI einen Wert größer als eins an. Ist der RSI kleiner als eins, dann sind die Kapazitäten von Unternehmen 𝑖 nötig, um die Marktnachfrage zu decken. Eine derartige Situation eröffnet dem entsprechenden Unternehmen Preissetzungsspielräume, die es potentiell in missbräuchlicher Weise ausnutzen kann. Deshalb wird der RSI als geeignetes Maß betrachtet, um anzuzeigen, ob ein Unternehmen zu einem bestimmten Zeitpunkt eine marktbeherrschende Stellung innehat.14

Rn827

Bei der Berechnung von Kapazitäten und Marktnachfrage für den RSI werden diese auf der Grundlage des zuvor Beschriebenen abgegrenzt.15 So werden beispielsweise Anlagen zur Erzeugung erneuerbarer Energien nicht in die im Zähler stehenden Kapazitäten einbezogen. Bei der Ermittlung der im Nenner stehenden Marktnachfrage wird berücksichtigt, dass der Strom aus erneuerbaren Energien diese bereits teilweise befriedigt. Des Weiteren werden für die Berechnung des RSI, aufgrund der oben skizzierten Marktabgrenzung, ausschließlich die Kapazitäten und die Nachfrage der Gebotszone Deutschland/Luxemburg berücksichtigt. Allerdings werden bei der Berechnung der Marktkapazität Nettoimporte aus benachbarten Gebotszonen einbezogen, um den (begrenzten) Einfluss ausländischer Erzeugungskapazitäten auf den inländischen Preis abzubilden (vgl. zur diesbezüglichen Kritik sogleich).

Rn828

In zeitlicher Hinsicht berechnet das BKartA den RSI – in Gestalt einer für Kartellrechtlerinnen und Kartellrechtler durchaus ungewöhnlichen zeitlichen Marktabgrenzung – für alle Viertelstunden eines Jahres. Allerdings vermutet das Amt erst dann eine marktbeherrschende Stellung eines Erzeugers bzw. seine Macht zu einer signifikanten Markt- und Preisbeeinflussung, wenn der entsprechende RSI in mindestens fünf Prozent der Viertelstunden eines Jahres kleiner als eins ist. Letztlich ist diese Zahl – ähnlich der 40 Prozent-Schwelle im Fall des § 18 Abs. 4 GWB – durchaus diskutabel,16 aber als solche in Gestalt eines ökonomisch zu rechtfertigenden Indikators aus Gründen der Rechtssicherheit wichtig.

Rn829

Im Falle der Beantwortung der Frage, in wie vielen Viertelstunden das Unternehmen RWE für Erzeugung und Versorgung mit Energie unverzichtbar ist, hat das BKartA – unter gewissen Besonderheiten der Berücksichtigung von Importen – verschiedene Analysen durchgeführt und ist – selbst bei einer großzügigen Beurteilung – zu einem Ergebnis von deutlich über fünf Prozent gelangt. Bei einer weniger unternehmensfreundlichen Bewertung ergäbe sich ein Ergebnis von rd. 16 Prozent.

Rn830

Die Darstellung des BKartA beruht auf einer soliden Datengrundlage und ihrer fundierten Analyse. Gleichwohl ist nicht zu verkennen, dass gerade von Seiten einiger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Verbesserungsbedarf gesehen bzw. Kritik geübt wird:

Rn831

Erstens ist fraglich, ob man nicht stärker Anreize fokussieren sollte, die Marktmacht auszuüben.17 Der Return on withholding capacity Index (RWC) wird als den RSI ergänzend begriffen und knüpft daran an, welche Anreize Unternehmen haben, Kapazitäten zurückzuhalten. Dieser Index ist allerdings deutlich aufwendiger zu kalkulieren und setzt voraus, dass ganze Portfolios an Kraftwerken differenziert analysiert werden können. Darin dürfte die entscheidende Ursache dafür zu sehen sein, dass das BKartA auf ihn nicht zurückgegriffen hat.

Rn832

Zweitens grenzt das BKartA zwar den Handel bei seiner Betrachtung aus. Doch hat dieser durchaus eine gewisse wettbewerbliche Wirkung. Unterstellt man beispielsweise, ein Unternehmen habe den Strom, den es produzieren könne, lange im Voraus veräußert, bestehen später kaum Anreize für den Marktbeherrscher zu einer Preiserhöhung.

Rn833

Drittens können manche Nachfrager durchaus ihre Stromabnahmemengen reduzieren. Analysiert wird aber derzeit allein die Angebotsseite. Gerade in Zeiten nachhaltigen Denkens ist das ohnehin nicht ausgeschlossen; erst recht können Nachfrager aber auf Preiserhöhungen reagieren, indem sie beispielsweise erwägen, ähnliche wirtschaftliche Resultate mit geringerem Energieeinsatz zu erzielen, oder bereit sind, geringe Abstriche z.B. bei der Lagerfähigkeit kühlungsbedürftiger Produkte hinzunehmen. Die Preiselastizität der Nachfrage, die bislang eher als starr gesetzt wird, könnte durchaus stärker Berücksichtigung finden.

Rn834

Schließlich wird – viertens – verschiedentlich kritisiert, dass das BKartA ausländischen Wettbewerbsdruck in seiner Analyse zwar im Ansatz, jedoch im Umfang nur unzureichend berücksichtigt habe. Hintergrund dieses Vorwurfs ist die Annahme, im Falle eines hypothetischen Marktmachtmissbrauchs in Deutschland stiegen nicht nur die Preise in Deutschland, sondern vor allem auch der Anreiz zu Stromimporten von benachbarten Strommärkten. Im- und Exporte reagierten – insbesondere unter Bedingungen sog. Market Couplings – sehr sensibel auf Preisunterschiede zwischen Ländern. Das sei systematisch unterschätzt worden.

Rn835

4. Bewertung und Ausblick

Auch wenn der Bericht keine rechtliche Bindungswirkung (vgl. dagegen etwa § 33b GWB) etwa im Hinblick auf etwaige Übernahmeverfahren zukommt, hat er doch eine erhebliche faktische Bindungs- und Signalwirkung. Die Gesetzesbegründung sieht den Zweck darin, den auf jenem Markt tätigen Unternehmen eine sog. Selbstveranlagung bzw. –einschätzung zu erleichtern. Den Marktakteuren soll also mehr Rechtssicherheit über ihre derzeitige Marktposition verschafft werden.

Rn836

Deutlich wird, dass RWE nun – als einziges Erzeugungsunternehmen – eine marktbeherrschende Stellung innehat, an die sich zwar zunächst als solche keine gravierenden Rechtsfolgen knüpfen.

Rn837

Doch geht von dieser Warnung aufgrund des Berichts eine erhebliche präventive Wirkung aus. Diese erreicht wohl auch schon jetzt – und gleichsam perspektivisch – LEAG und EnBW, die im Berichtsjahr als für die Deckung der Nachfrage unverzichtbar gehalten werden, wenngleich die ermittelten Zeitanteile noch deutlich unterhalb der für eine Marktbeherrschung relevanten Vermutungsschwelle liegen.

Rn838

Die Position der Marktbeherrschung stellt das BKartA vielmehr nur zu Lasten von RWE fest. Der Einwand des Unternehmens, es sei für die Umstände und das Marktumfeld, die zu dieser Position geführt haben, nicht verantwortlich, ist allerdings unbeachtlich. Denn es spielt aus kartellrechtlicher Sicht keine Rolle, ob das Unternehmen irgendein Verhaltensvorwurf trifft.18 Richtig allerdings ist, dass Geldbußen nur bei vorsätzlichem oder fahrlässigem Handeln des Unternehmens verhängt werden dürfen (vgl. etwa Art. 23 Abs. 2 VO 1/2003). Das betrifft aber die nachgelagerte Frage eines (derzeit nicht gegebenen) Missbrauchs, nicht die vorgelagerte der marktbeherrschenden Stellung, an die sich per se keine derartigen Folgen knüpfen. RWE wird also in eine gewisse wettbewerbliche Verantwortung genommen; Indizien für einen Missbrauch mit entsprechenden Haftungsrisiken bestehen derzeit indes wohl nicht.

Rn
839

Aus kartellrechtlicher Sicht ist es freilich geboten, auch § 29 GWB, der eine scharfe Missbrauchsaufsicht für den Stromsektor statuiert, in den Blick und auch den Leitfaden des BKartA und der BNetzA aus dem Jahre 2019 hinzuzunehmen.19 BKartA und BNetzA knüpfen den Vorwurf eines Ausbeutungsmissbrauchs an eine missbräuchliche Kapazitätszurückhaltung, die zu einer Erhöhung der Stromgroßhandelspreise führt. Bei normalem, wettbewerblich geprägten Marktgeschehen sei zu erwarten, dass jede Kapazität, die über ihren kurzfristigen Grenzkosten verkauft werden kann, auch am Markt angeboten wird, die der Anbieter hierdurch einen zusätzlichen Deckungsbeitrag erzielen könne. Sie nehmen deshalb eine missbräuchliche Kapazitätsrückhaltung schon dann an, wenn ein Unternehmen tatsächlich verfügbare Stromerzeugungskapazitäten, die zu einem Preis oberhalb der jeweiligen kurzfristigen Grenzkosten verkauft werden können, nicht am Markt anbietet (sog. physische Kapazitätszurückhaltung) oder nur zu einem derart hohen Preis, dass die Kapazitäten bei der Zusammenführung von Angebot und Nachfrage nicht zum Zuge kommen (sog. finanzielle Kapazitätszurückhaltung). Das wird kontrovers diskutiert, weil Preisspitzen Grundvoraussetzung für Kraftwerksrefinanzierung und Investitionsanreize auf dem Strommarkt sind. Können Gaskraftwerke etwa nur zu Grenzkosten anbieten, wird man neue Investitionen kaum amortisieren können. Den Betreibern konventioneller, für die Gewährleistung der Versorgungssicherheit unverzichtbarer Spitzenlastkraftwerke wird eine Refinanzierung ihrer Anlagen primär über Preisspitzen im Strommarkt gelingen. Um in kurzen Einsatzzeiten am Strommarkt – namentlich bei Lastspitzen oder Dunkelflauten – die erforderlichen Deckungsbeiträge erlösen zu können, sind Gebote oberhalb der spezifischen Grenzkosten für sie ggf. existentiell.

Rn840

Infolge der Dynamik der Transformationsprozesses im Zuge fortschreitenden Atom- und Kohleausstiegs und der bevorstehenden Schaffung europäischer Plattformen für die Regelenergiebeschaffung erwägt das BKartA im Übrigen, auch den kommenden Marktmachtbericht früher als nach der gesetzlich statuierten Zweijahresfrist zu veröffentlichen. Viele werden gespannt sein.

Rn841