LRZ E Zeitschrift Logo

LRZHeaderBogenRot
 

Zitiervorschlag: Lenz/Bertram, LRZ 2024, Rn. 355, [●], www.lrz.legal/2024Rn355.

Permanente Kurz-URL: LRZ.legal/2024Rn355

In seinem Urteil vom 1.8.2023 – VI ZR 82/22 hat der BGH über das Vorliegen eines Produktfehlers beim gebrochenen Keramikinlay einer sog. Hüftendoprothese entschieden. Konkret ging um die Frage, ob eine hergestellte, im Jahr 2007 implantierte und im Jahr 2011 nach einem Bruch des dazugehörigen Keramikinlays ausgetauschte Hüftprothese fehlerhaft war. Die in Betracht kommenden Anspruchsgrundlagen sind die §§ 1 ff. ProdHaftG und § 823 Abs. 1 BGB. Der Beitrag analysiert die Entscheidung und ihre Auswirkungen auf die Praxis.

1. Einführung

Der für Produkthaftung zuständige VI. Zivilsenat des BGH hat mit Urteil vom 1.8.2023 die im Produkthaftungsrecht über die Jahre etablierten Regeln zur Darlegungs- und Beweislast (vorerst) bestätigt und die Revision in einem Verfahren um behauptete Fabrikations-, Konstruktions-, und Instruktionsfehler im Zusammenhang mit dem Bruch des Keramikinlays einer Hüftprothese gegen den Hersteller zurückgewiesen.1 In dem Verfahren bestätigte der BGH, dass die Klägerin den behaupteten Produktfehler nicht nachgewiesen hat.

Rn355

2. Sachverhalt

Die Klägerin nimmt die Beklagte, eine Gesellschaft mit Sitz in Österreich, nach dem Bruch des Keramikinlays ihrer Hüfttotalendoprothese auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens in Anspruch.

Rn356

Im Jahr 2007 war der Klägerin eine von der Beklagten hergestellte sog. Hüfttotalendoprothese implantiert worden. Die Gelenkpfanne dieser Prothese bestand aus einem Keramikinlay aus dem Material F. mit dem Durchmesser von 36 mm, das von einem Zulieferer der Beklagten hergestellt und durch Mitarbeiter der Beklagten in eine Metallummantelung (sog. Hütchen) eingepresst worden war. Aufgrund eines Bruchs der in der Prothese verbauten Pfanne wurde diese im Jahr 2011, also etwa vier Jahre nach der Implantation, bei der Klägerin ausgetauscht. Die Klägerin sah in der gebrochenen Pfanne einen Produktfehler der Hüftprothese.

Rn357

Das befasste Landgericht Potsdam hat unter anderem nach Einholung eines Gutachtens des Sachverständigen B. und dessen Anhörung die Klage in erster Instanz abgewiesen.2 Das Oberlandesgericht Brandenburg hat nach Anhörung des Sachverständigen B. und Einholung eines Gutachtens des Sachverständigen K. und dessen Anhörung die Berufung der Klägerin zurückgewiesen, die Revision aber zugelassen.3 Mit der Revision verfolgte die Klägerin sodann ihr Klagebegehren weiter.

Rn358

3. Die Entscheidung des BGH

Zentrale Fragestellung war, ob den Hersteller die Verantwortung für den Bruch des Inlays traf. Insofern hatte sich der zuständige Senat des BGH insbesondere mit den Anforderungen an die Beweisführung bei Produktfehlern zu befassen. Er kam hierbei zu dem Ergebnis, dass der Klägerin der geltend gemachte Anspruch auf materiellen und immateriellen Schadensersatz weder nach den Regeln der Gefährdungshaftung gemäß §§ 1 Abs. 1, 3, 8, 9 ProdHaftG noch nach der Deliktshaftung gemäß § 823 Abs. 1 BGB zustehe. Begründet wurde die Entscheidung insbesondere damit, dass die Klägerin nicht nachgewiesen habe, dass das von der Beklagten hergestellte Produkt fehlerhaft i.S.d. § 3 Abs. 1 ProdHaftG war.

Rn359

3.1. Internationale Aspekte der Entscheidung: Zuständigkeit der deutschen Gerichte und Anwendbarkeit des deutschen Rechts

Die Entscheidung ist auch wegen des grenzüberschreitenden Sachverhalts von Bedeutung, hatte der Hersteller der Prothesen seinen Sitz in Österreich.

Rn360

Die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte wurde bejaht. Diese bestimmt sich nach der örtlichen Zuständigkeit. Die örtlich zuständigen Gerichte sind auch international zuständig.4 Da die Klage noch vor dem 10.1.2015 erhoben worden war, ergab sich die Zuständigkeit im hiesigen Fall (noch) aus der sog. „Brüssel I-VO“5 (Artt. 5 Nr. 3, 60 Abs. 1).6 Zur Erinnerung: Die Brüssel Ia-VO ist nur auf solche Verfahren anzuwenden, die am 10.1.2015 oder danach eingeleitet worden sind.7

Rn361

Zudem war deutsches Recht anwendbar. Aufgrund der strittigen Frage, ob im Zusammenhang mit der ROM II-VO auf den Zeitpunkt des „Inverkehrbringens“ (vor 2007)8 abzustellen gewesen wäre oder auf den des „Eintritts der Rechtsgutsverletzung“ (hier 2011),9 kam es – noch in der mündlichen Verhandlung in der Revisionsinstanz – zu einer ausdrücklichen Rechtswahl und der Senat konnte diese Frage offenlassen.

Rn362

Eine Rechtswahl in der mündlichen Verhandlung in der Revisionsinstanz hält der BGH für zulässig (sei es nach Art. 14 der ROM II-VO oder nach Art. 42 EGBGB). Dies ist insofern bemerkenswert, als nach allgemein bekannter Rechtsprechung eine einvernehmliche Rechtswahl „(jedenfalls) bis zum Ende der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz möglich war“10 und sich Anwälte daran bislang – primär – orientiert haben. Wörtlich führte der Senat hierzu nunmehr aus:

Rn363

„(…) Neue Tatsachen dürfen im Revisionsverfahren grundsätzlich nicht berücksichtigt werden. Nach ständiger Rechtsprechung des BGH ist § 559 Abs. 1 Satz 1 ZPO allerdings einschränkend dahin auszulegen, dass in bestimmtem Umfang auch Tatsachen, die sich erst während der Revisionsinstanz ereignen, in die Urteilsfindung einfließen können, soweit sie unstreitig sind und schützenswerte Belange der Gegenseite nicht entgegenstehen. Der Gedanke der Konzentration der Revisionsinstanz auf die rechtliche Bewertung eines festgestellten Sachverhalts verliert nämlich an Gewicht, wenn die Berücksichtigung von neuen tatsächlichen Umständen keine nennenswerte Mehrarbeit verursacht und die Belange des Prozessgegners gewahrt bleiben. (…)“.11

Rn364

3.2. Kein Produktfehler

Nach § 3 Abs. 1 ProdHaftG hat ein Produkt einen Fehler, wenn es nicht die Sicherheit bietet, die unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere seiner Darbietung, des Gebrauchs, mit dem billigerweise gerechnet werden kann, und des Zeitpunkts, in dem es in den Verkehr gebracht wurde, berechtigterweise erwartet werden kann. Diese überwiegend unbestimmten Merkmale bedürfen einer Auslegung im Einzelfall. Angesichts der unbegrenzt scheinenden Menge an Produkten war sich der Gesetzgeber bewusst, dass eine konkretere Formulierung kaum gefunden werden konnte, und setzte insoweit auf die Konkretisierung durch die Rechtsprechung.12 Die nach § 3 Abs. 1 ProdHaftG maßgeblichen Sicherheitserwartungen beurteilen sich grundsätzlich nach denselben objektiven Maßstäben wie die Verkehrspflichten des Herstellers im Rahmen der deliktischen Haftung gemäß § 823 Abs. 1 BGB. Für das Vorliegen des Produktfehlers, des Schadens und des ursächlichen Zusammenhangs zwischen Fehler und Schaden trägt der Geschädigte nach § 1 Abs. 4 Satz 1 ProdHaftG die Beweislast.13

Rn365

In der Rechtsprechung zur Produkthaftung haben sich verschiedene Fehlertypen herauskristallisiert und Fallgruppen gebildet.14 Der befasste Senat des BGH zeigte im Rahmen der Entscheidung schulbuchmäßig auf, warum einer Ansicht im streitgegenständlichen Fall weder ein Fabrikations- noch ein Konstruktions- und auch kein Instruktionsfehler gegeben waren:

Rn366

3.2.1. Kein Fabrikationsfehler

Ein sog. Fabrikationsfehler kann vorliegen, wenn einzelne Produkte einer Serie den vom Hersteller selbst aufgestellten Sicherheitsstandards nicht entsprechen. Etwa das Abweichen eines einzelnen Produkts von der konkreten Zeichnung, zu dessen Einhaltung der Hersteller sich selbst verpflichtet, stellt grundsätzlich einen solchen Fabrikationsfehler dar.15

Rn367

Vorliegend entschied der BGH, dass ein Fabrikationsfehler nicht bereits deshalb vorliege, weil das Keramikinlay einen Abstand von 0,65 mm zum oberen Metallrand der Metallummantelung aufgewiesen habe. Der befasste Sachverständige habe insoweit nicht feststellen können, dass das Einsinken des Keramikinlays in die Metallummantelung Auswirkungen auf die Bruchsicherheit gehabt haben könnte.

Rn368

Auch greife im streitgegenständlichen Fall kein sog. Anscheinsbeweis ein. Der Anscheinsbeweis stellt kein besonderes Beweismittel dar, sondern ist lediglich der konsequente Einsatz von Sätzen der allgemeinen Lebenserfahrung im Rahmen der freien Beweiswürdigung.16 Er greift nur bei einem typischen Geschehensablauf ein. Es muss ein solcher Sachverhalt feststehen, der nach der Lebenserfahrung auf eine bestimmte Ursache oder auf einen bestimmten Ablauf hinweist.17 Im hiesigen Fall entschied der BGH, dass es an diesem für das Eingreifen des Anscheinsbeweises typischen Geschehensablauf gerade fehle.18 Auch die Ausführungen der Klägerin, dass sich aus dem Sachverständigengutachten ergebe, dass die höhere Ausfallrate von Keramikinlays der Herstellerin aus dem Material F. der Größe 36 mm gegenüber gleichartigen Keramikinlays der Herstellerin kleinerer Größen wahrscheinlich durch eine ungenügend kontrollierte bzw. reproduzierbare Fertigung und/oder eine für Medizinprodukte ungenügende Qualitätskontrolle hervorgerufen werde, sowie, dass die Ausfallrate zudem durch eine dünne Pfannen- und Inlaywandstärke begünstigt sei, vermochte an dieser Auffassung nichts zu ändern. Das Herausstellen bloß möglicher Beeinträchtigungen im Herstellungsprozess als etwaige Ursachen stelle – so der befasste Senat – keinen solchen typischen, allgemeingültigen Erfahrungssatz dar.

Rn369

Der Sachverständige – so der BGH – habe einen Fabrikationsfehler verneint und habe auch nicht erneut vernommen werden müssen. Es habe kein Anlass dafür bestanden, einen weiteren Sachverständigen heranzuziehen. Dies hätte vorausgesetzt, dass das vorliegende Gutachten von falschen Voraussetzungen ausgegangen sei, Widersprüche enthalte oder aber der neue Sachverständige über Forschungsmittel verfüge, die über jene des bisherigen Sachverständigen hinausgingen.

Rn370

3.2.2. Kein Konstruktionsfehler

Bei der Konstruktion (die der Fabrikation vorausgeht) haben Hersteller darauf zu achten, (nahezu) sämtliche ihnen zur Verfügung stehenden technischen Möglichkeiten auszunutzen und sich, soweit nur eben möglich, auch an die technischen Regelungen (etwa DIN-Normen) zu halten. Bezugspunkt ist – bezogen auf das jeweilige Inverkehrbringen – der jeweils neueste „Stand von Wissenschaft und Technik“ (sog. Mindeststandard).19 Wenn die mit der Produktbenutzung einhergehenden Risiken nicht zu vermeiden sind, so ist unter Abwägung von Art und Umfang der Risiken, der Wahrscheinlichkeit der Verwirklichung und des mit dem Produkt verbundenen Nutzens zu entscheiden, ob das Produkt in den Verkehr gebracht werden darf.20

Rn371

Die bloße Tatsache, dass es zum Bruch des Inlays gekommen sei, lasse nicht den Rückschluss auf das Vorliegen eines Konstruktionsfehlers zu. Es sei unstreitig, dass im Jahr 2007, zum Zeitpunkt der Implantation der Hüftprothese, bei der Klägerin Brüche der Pfannen nicht gänzlich ausgeschlossen waren. Es habe damit auch nicht den berechtigten Sicherheitserwartungen i. S. d. § 3 Abs. 1 ProdHaftG entsprochen, dass Brüche niemals vorkommen würden. Auch die Verwendung eines anderen Materials oder einer kleineren Größe hätte kein Mehr an Sicherheit bedeutet. Einen insoweit erforderlichen Nachweis habe die Klägerin nicht erbracht. Zuverlässige wissenschaftliche Erkenntnisse dazu, dass ein anderes Material eine höhere Bruchsicherheit aufgewiesen hätte, haben zur Zeit des Inverkehrbringens ebenfalls nicht vorgelegen. Sind nach dem maßgeblichen Stand von Wissenschaft und Technik bestimmte mit der Produktnutzung eingehende Risiken mithin nicht zu vermeiden, sei unter Abwägung von Art und Umfang der Risiken der Wahrscheinlichkeit ihrer Verwirklichung mit dem mit dem Produkt verbundene Nutzen zu entscheiden. Dies gelte auch hinsichtlich eines höheres Bruchrisikos eines Keramikinlays einer Hüftprothese. Vorliegend sei die Abwägung zugunsten des mit dem Produkt verbundenen Nutzens, einem erweiterten Bewegungsausmaß der Kugel in der Pfanne und der Verminderung des Risikos einer Luxation (Ausrenken) ausgefallen.

Rn372

3.2.3. Kein Instruktionsfehler

Instruktionsfehler können schon vorliegen, wenn Gebrauchsanweisungen gänzlich fehlen, deren Vorhandensein aber notwendig gewesen wäre, um vor Gefahren zu warnen. Sie bestehen in einer mangelhaften Gebrauchsanweisung oder aber in nicht ausreichenden Warnungen vor gefahrbringenden Eigenschaften.21

Rn373

Auch ein solcher Fehler wurde vorliegend verneint, da ein über das generell bestehende Bruchrisiko hinausgehendes Risiko zur Zeit des Inverkehrbringens nicht bekannt und ein Hinweis zu dieser Zeit damit nicht möglich gewesen sei. Dies habe sich erst im Jahre 2009 geändert.

Rn374

3.3. Keine pauschale Übertragbarkeit der Fehlerverdachts-Rechtsprechung des EuGH

In seiner Entscheidung betonte der BGH zudem, dass die Grundzüge der Rechtsprechung des EuGH aus dem Jahr 2015, wonach bei bestimmten medizinischen Produkten (wie Herzschrittmachern oder implantierten Cardioverten Defibrillatoren) bereits bei „Verdacht eines Produktfehlers“ von einem Fehler i.S.d. § 3 Abs. 1 ProdHaftG ausgegangen werden kann,22 nicht pauschal übertragen werden können, und zeigte insofern klare Grenzen auf.

Rn375

Diese – auf eine Vorlage des BGH zurückgehende – Rechtsprechung des EuGH wurde zuletzt vermehrt im Rahmen von Haftungsprozessen dahingehend eingebracht, dass sich in Produkthaftungsklagen wegen medizinischer Implantate die Feststellung eines Produktfehlers im individuellen Schadensfall erübrige. Der Entscheidung des EuGH haben Fälle zugrunde gelegen, in denen ein Fehler bei bestimmten Medizinprodukten, bei denen die Anforderungen an die Sicherheit als besonders hoch erachtet werden, eine immense Gefahr für Personenschäden mit sich bringen kann. Daher könne – so entschied der EuGH – bei bestimmten medizinischen Produkten ein Produkt bereits dann als fehlerhaft eingestuft werden, wenn bei einer signifikanten Anzahl von Produkten derselben Produktgruppe oder -serie eine Fehlfunktion aufgetreten sei, mit der Folge, dass aufgrund eines demgemäß potenziellen Fehlers alle Produkte dieser Gruppe oder dieser Serie als fehlerhaft einzustufen seien. Ein Fehler des individuellen Produkts mithin dann nicht mehr nachgewiesen werden müsse.

Rn376

Einige Gerichte haben diese EuGH-Rechtsprechung seither auf andere medizinische Implantate übertragen. Das Berufungsgericht, das OLG Brandenburg, hatte die Anwendbarkeit zwar offengelassen, aber ebenfalls gute Argumente dafür gesehen, diese Rechtsprechung auf auch die Hüftprothese zu übertragen, weil der Bruch einer Hüftprothese wohl eine schwerwiegende Revisionsoperation erforderlich machen würde.23

Rn377

Auf die insoweit tatsächlich sehr spannende Frage, ob die Rechtsprechung des Unionsgerichtshofs zu Herzschrittmachern und implantierbaren Cardioverten Defibrillatoren auf Gefahren übertragbar ist, die von implantierbaren Produkten wie Hüftprothesen ausgehen,24 kam es nach Ansicht des BGH allerdings nicht an. Der BGH stellte vielmehr klar, dass die Rechtsprechung des EuGH zum Fehlerverdacht zwar grundsätzlich in Fällen greifen könne, in denen ein Implantat rein vorsorglich ausgetauscht werden musste, dies aber eben nicht der Fall sei, wenn ein Implantat tatsächlich ausgefallen sei bzw. eine Fehlfunkzion eingetreten sei. Vorliegend hatte die Klägerin – soweit sie sich auf einen potenziellen Fehler bezog – einen Umstand geltend gemacht, der jedenfalls nicht ursächlich für die eingetretene Körperverletzung, also die Primärverletzung im Sinne des § 1 Abs. 1 ProdHaftG,25 war. Nach dem Vortrag der Klägerin habe der Bruch des Keramikinlays zu einer Fehlfunktion ihrer Prothese geführt. Die daraufhin erfolgte Austauschoperation diente der Beseitigung dieser vorgebrachten Fehlfunktion und nicht der Beseitigung der Gefahr eines künftigen Ausfalls des Produkts. Der BGH ließ die Haftung der Herstellerin mithin bereits daran scheitern, dass selbst bei einem unterstellten potenziellen Serienfehler dieser nicht ursächlich für die eingetretene Körperverletzung der Klägerin gewesen wäre. Daher habe der Fehler eben konkret nachgewiesen werden müssen, was vorliegend, wie ausgeführt, nicht gelungen sei.

Rn378

3.4. Fazit der Entscheidung

Das Urteil befasst sich mit den Anforderungen an einen Produktfehler und dessen Nachweis. Die Entscheidung ist deshalb überzeugend, da die im Produkthaftungsrecht etablierten Regeln zur Darlegungs- und Beweislast (vorerst) nochmals bestätigt werden und Klarstellungen erfolgen.

Rn379

Der Senat zeigt eindrücklich auf, dass sich Medizinproduktehersteller – aber eben nicht nur diese, sondern vielmehr Produzenten sämtlicher Branchen – fortlaufend (gesteigerten) potenziellen Haftungsrisiken ausgesetzt sehen. Das sog. scharfe Schwert der Produkthaftung, einer Gefährdungshaftung, schwebt konsequent über ihnen. Dies kann und soll aber gleichzeitig auch nicht bedeuten, dass Hersteller für jede durch ihre Produkte entstandenen Schäden auch haften, was der BGH im hiesigen Fall verdeutlicht hat.

Rn380

4. Ausblick auf Novationen durch die Reform der Produkthaftung und erwartete praktische Konsequenzen

Das Europäische Parlament hat, nach einer politischen Einigung auf einen finalen Text im Trilog im Februar 2024, am 12.3.2024 die neue EU-Produkthaftungsrichtlinie verabschiedet.26 Sobald auch die formelle Zustimmung des Rats erfolgt ist, tritt die Richtlinie nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt in Kraft. Sodann haben die Mitgliedstaaten zwei Jahre Zeit, die Richtlinie in nationales Recht umzusetzen, was heißt. dass die neuen Regelungen in Deutschland voraussichtlich ab Mitte 2026 anwendbar sein werden.

Rn381

Wie auch just die besprochene Entscheidung des BGH wieder aufzeigt, ist es für Geschädigte bekanntlich nicht immer leicht, die Fehlerhaftigkeit des Produkts und den ursächlichen Zusammenhang zwischen der Fehlerhaftigkeit und dem entstandenen Schaden nachzuweisen. Zu den Kernanliegen der neuen EU-Produkthaftungsrichtlinie sollen daher Beweiserleichterungen und der erleichterte Zugang zu Beweismitteln für Geschädigte zählen.

Rn382

4.1. Offenlegung von Beweismitteln

Art. 9 des Entwurfstextes der Produkthaftungsrichtlinie sieht vor, dass Geschädigten auf Antrag Zugang zu (relevanten) Beweismitteln künftig weitgehend gestattet werden könnte. Der Geschädigte soll Zugang zu in der Verfügungsgewalt des Herstellers befindlichen relevanten Beweismitteln beantragen können, um Ansprüche somit besser geltend machen zu können (vgl. Art. 9 Abs. 1).27 Unternehmen können demnach künftig durch die nationalen Gerichte, d.h. nicht außergerichtlich, dazu „gezwungen“ werden, in ihrem Besitz befindliche Beweismittel, die der Geschädigte zur Begründung seiner Produkthaftungsansprüche benötigt, auf Antrag der geschädigten Person (mithin dem Kläger) herauszugeben, wenn diese ihren Anspruch auch plausibel darlegen kann. Die Pflicht zur Offenlegung von Beweismitteln ist ein gegenüber dem bisherigen deutschen Recht fremder (und über die Vorlagepflichten des § 142 ZPO weit hinausgehender) Ansatz. Zwar findet eine Verhältnismäßigkeitsprüfung statt,28 und auch Maßnahmen zum Schutz der Vertraulichkeit der offenzulegenden Informationen einschließlich Geschäftsgeheimnissen haben Eingang in den finalen Entwurfstext gefunden, die prozessualen Möglichkeiten werden durch dieses Novum im Produkthaftungsrecht allerdings dennoch deutlich zuungunsten beklagter Produzenten verschoben. Die Reform bedeutet eine erhebliche Verschärfung der Produkthaftung und dürfte zu einem ganz erheblich erhöhtem Haftungsrisiko für Produzenten führen.

Rn383

4.2. Erweiterung der Beweiserleichterungen für Geschädigte

Auch wenn sich das Europäische Parlament und der Rat auf eine Umkehr der Beweislast nicht verständigen konnten, so sollen doch die Beweiserleichterungen für Geschädigte im Verhältnis zu der aktuellen Produkthaftungsrichtlinie29 deutlich erweitert werden. So wird insbesondere festgeschrieben werden, dass Beweiserleichterungen durch die Gerichte angeordnet werden können.30

Rn384

Während für den Schaden weiterhin den Geschädigten die volle Beweislast trifft, sollen die Fehlerhaftigkeit des Produkts und/oder auch der ursächliche Zusammenhang immer dann widerlegbar vom angerufenen Gericht vermutet werden, wenn etwa eine Beweisführung für den Kläger aufgrund technischer oder wissenschaftlicher Komplexität übermäßig schwierig wäre. Der Geschädigte hätte dann nur noch zu beweisen, dass das Produkt „wahrscheinlich fehlerhaft“ war, bzw. zu beweisen, dass diese wahrscheinliche Fehlerhaftigkeit den Schaden „wahrscheinlich verursacht“ hat. Der beklagte Hersteller muss seinerseits dann Beweis vorbringen, um diese Vermutungen zu widerlegen.

Rn385

4.3. Bewertung

Diese neuen prozessualen Änderungen, wie etwa die Offenlegungspflicht und die Erweiterung der Beweiserleichterungen für Geschädigte, werden weitreichende Konsequenzen für die Erfolgsaussichten von Haftungsprozessen haben. Zusammengefasst bedeutet dies, dass der Geschädigte über die Plausibilität seines Anspruchs und den Schaden hinaus künftig nicht mehr viel unter Beweis zu stellen hat, wenn er nach einem Schadenereignis im Zusammenhang mit dem Produkt Schadensersatzansprüche gegen den Hersteller geltend machen möchte.

Rn386

Welcher Maßstab hierfür von den Gerichten angelegt wird, muss sich noch zeigen. Wann etwa von einer Beweisführung mit einer „übermäßig schwierigen technischen Komplexität“ ausgegangen werden muss, wird zum einen in der Hand der nationalen Gesetzgeber, jedenfalls aber zum anderen auch in der Hand der Gerichte liegen, die sich mit diesen auslegungsbedürftigen Fragen im Einzelnen zu beschäftigten haben werden. Feststeht, dass die Kläger diese Beweiserleichterungen ausschöpfend versuchen werden auszureizen. Zum anderen fragt sich, wo zum Zwecke des Ausgleichs der Informationsasymmetrie die Gerichte die Grenze ziehen werden, sprich wie viele und welche Unterlagen können Geschädigte von den Herstellern beantragen?

Rn387

Als Vertreter der Hersteller und/oder der Haftpflichtversicherer kann man nur hoffen, dass Gerichte mit diesen neuen Ansätzen restriktiv umgehen werden. Die Mitgliedstaaten werden die Vorschriften innerhalb von 24 Monaten ab Inkrafttreten der Richtlinie umzusetzen haben, vermutlich also bis Mitte 2026, sodass betroffenen Unternehmen eine Übergangsfrist verbleibt, in der sie sich auf die neuen Vorschriften einstellen können.

Rn388

1 BGH, Urteil vom 1.8.2023 – VI ZR 82/22, NJW 2023, 3159.

2 LG Potsdam, Urteil vom 29.4.2016 – 4 O 109/12.

3 OLG Brandenburg (4. Zivilsenat), Urteil vom 16.2.2022 – 4 U 193/16, ZfPC 2022, 134.

4 Musielak/Voit/Heinrich, ZPO, 20. Aufl. 2023, § 12 Rn. 17.

5 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22.12.2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. L 12/1.

6 Vgl. dazu auch EuGH, Urteil vom 28.1.2015 – C-375/13, NJW 2015, 1581, Rn. 44; EuGH, Urteil vom 16.1.2014 – C-45/13, NJW 2014, 1166, Rn. 18 ff.

7 BGH, Urteil vom 28.1.2016 - Az. I ZR 60/14, NJW-RR 2016, 498, Rn. 15.

8 Herrschende Meinung, so z.B. Grüneberg/Thorn, BGB, 83. Aufl. 2024, Rom II-VO Art. 32 Rn. 2; MüKoBGB/Junker, 8. Aufl. 2021, Rom II-VO Art. 31, Art. 32 Rn. 6.

9 Vgl. Knöpfel, Nomos Kommentar BGB, 3. Aufl. 2019, Rom II-VO Art. 32 Rn. 10.

10 Vgl. dazu etwa BGH, Urteil vom 9.8.2022, NJW 2022, 3072, Rn. 19.

11 BGH, Urteil vom 9.8.2022, NJW 2022, 3072, Rn. 19.

12 Ehring/Taeger/Taeger, Produkthaftungs- und Produktsicherheitsrecht, 1. Aufl. 2022, § 3 Rn. 15.

13 Ehring/Taeger/Ehring, Produkthaftungs- und Produktsicherheitsrecht, 1. Aufl. 2022, § 1 Rn. 127 ff.

14 Vgl. etwa BGH, Urteil vom 16.6.2009 – VI ZR 107/08, NJW 2009, 2952, Rn. 12 ff.

15 Lenz, Produkthaftung, 2. Aufl. 2022, § 3 Rn. 325 m.w.N.

16 Geigel/Schmidt, Haftpflichtprozess, 29. Aufl. 2024, Kap. 36 (Beweisführung und Beweiswürdigung), Rn. 43.

17 Anders/Gehle/Nober, ZPO, 82. Aufl. 2024, § 286 Rn. 76.

18 Dazu zuletzt BGH, Urteil vom 18.12.2019 – XII ZR 13/19, VersR 2020, 636, Rn. 32 m.w.N.

19 Lenz, Produkthaftung, 2. Aufl. 2022, § 3 Rn. 323 ff. m.w.N

20 BGH, Urteil vom 16.6.2009 – VI ZR 107/08, VersR 2009, 1125, Rn. 17.

21 Lenz, Produkthaftung, § 3, Rn. 326 ff. m.w.N.

22 Vgl. EuGH, Urteil vom 5.3.2015 – C-503/13 und C-504/13, NJW 2015, 1163.

23 OLG Brandenburg, Urteil vom 16.2.2022 – 4 U 193/16, ZfPC 2022, 134.

24 Dafür: u.a. KG Berlin, Urteil vom 28.8.2015 – 4 U 189/11, GesR 2016, 96; LG Freiburg, Urteil vom 2.8.2019 – 1 O 223/12, MPR 2019, 150, 159 f.; dazu auch Wagner, JZ 2016, 292, 302 f.; zweifelnd Koch, VersR 2015, 1467, 1471.

25 Zum Begriff der „Primärverletzung“ vgl. BGH, Urteil vom 26.7.2022 – VI ZR 58/21, NJW 2022, 3509, Rn. 14; dazu auch Kaufmann/Seehafer, MedR 2017, 369, 374; Handorn/Martin, MPR 2016, 76, 80.

26 Siehe hierzu: COM(2022) 495 final, eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/HIS/?uri=CELEX:52022PC0495, zuletzt abgerufen am 28.3.2024.

27 Vgl. Art. 9 Abs. 1 des Richtlinienvorschlags COM(2022) 495 final in seiner Fassung vom 12.3.2024.

28 Vgl. Art. 9 Abs. 3 bis 6 des Richtlinienvorschlags COM(2022) 495 final in seiner Fassung vom 12.3.2024.

29 Richtlinie 85/374/EWG des Rates vom 25.7.1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte, ABl. L 210/29.

30 Vgl. Art. 10 des Richtlinienvorschlags COM(2022) 495 final in seiner Fassung vom 12.3.2024.

Die Welt der EDRA Media

Die LRZ erscheint bei der EDRA Media GmbH.
EDRA Media ist ein innovativer Verlag,
Veranstalter und Marketingdienstleister auf den
Gebieten des Rechts und der Medizin.

Gesellschafter sind die Edra S.p.A. (LSWR Group)
und Dr. Jochen Brandhoff.

 

​EDRA MEDIA│ Innovation, Sustainability, Resilience

LEGAL REVOLUTION │Die Rechtsmesse

​LR ACADEMY│ Erlebe Spezialistenwissen

Ihr Kontakt

Journal@LRZ.legal

+49 69-348 74 49 70

 

Zeil 109
60313 Frankfurt a. M.

Folgen Sie uns